3.
Was wunderst du dich noch, daß die Beschneidung nach dem Glauben kommt, da sie ja auch nach der Unbeschnittenheit kommt? Ja sie kommt nicht allein der Zeit nach hinter dem Glauben, sondern auch dem Werte nach, und zwar so weit, wie das Zeichen hinter der Sache, wofür es das Zeichen ist, etwa wie das mili- S. b135 tärische Abzeichen hinter dem Soldaten. Wozu bedurfte Abraham denn „eines Siegels“? fragst du. Er selbst bedurfte keines. Wozu erhielt er es denn? Um gemeinsamer Vater aller Gläubigen zu werden, sowohl derer durch Beschneidung wie auch derer im unbeschnittenen Zustande; also nicht einfach derer, die beschnitten sind. Darum fährt er fort:
V. 12: „Nicht bloß derer, welche die Beschneidung haben.“
Denn wenn er Vater der Unbeschnittenen wurde, nicht einfach deswegen, weil er unbeschnitten war und in diesem Zustande gerechtfertigt wurde, sondern weil (Unbeschnittene) ihm in seinem Glauben nacheiferten: so ist er um so weniger Vater der Beschnittenen bloß seiner Beschneidung wegen, wenn nicht der Glaube (der Beschnittenen) dazu kommt. Die Beschneidung empfing er, damit wir beide, sagt er, ihn zum Stammvater haben und die Unbeschnittenen die Beschnittenen nicht zurückstoßen. Siehst du, wie diese (die Unbeschnittenen) ihn früher zum Stammvater haben? Wenn aber die Beschneidung ihre Ehrwürdigkeit hat, weil sie die Gerechtigkeit bekundet, so ist ihr die Unbeschnittenheit doch um ein nicht Geringes dadurch voraus, daß ihr die Gerechtigkeit wirklich zuteil ward vor der Beschneidung. Du kannst Abraham also dann zum Stammvater haben, wenn du seinen Fußstapfen des Glaubens nachwandelst und dich nicht auf das Gesetz steifst und damit ein großes Wesen machst. Welchen Glaubens? Sag’ mir. „Des Glaubens im Zustande der Unbeschnittenheit.“ Wieder dämpft er den Stolz der Juden, indem er an die Zeit denken läßt, da die Rechtfertigung statthatte. Gut sagt er auch: „in den Fußstapfen“, damit du gleichwie Abraham an die Auferstehung der Toten glaubest; denn auch der hat seinen Glauben gerade in diesem Punkte bewährt.
Somit, wenn du die Unbeschnittenheit verwirfst, wisse sicher, daß dir auch die Beschneidung (an sich) nichts nützt; denn wenn du nicht „in den Fußstapfen des Glaubens“ wandelst, kannst du tausendmal beschnitten sein und bist doch kein Abkömmling Abrahams. Er S. b136 hat ja die Beschneidung deswegen bekommen, damit dich der Unbeschnittene nicht verwerfe. Verlange sie darum nicht von diesem; für dich ist sie eine Hilfe geworden, nicht für jenen. Aber, sagst du, sie ist ja doch ein Zeichen der Gerechtigkeit. Ja, aber auch das nur zu deinem Vorteil; jetzt ist sie übrigens auch das nicht mehr; denn damals bedurftest du sinnlicher Zeichen, jetzt sind sie nicht mehr notwendig. Konnte man denn nicht, fragst du, an dem Glauben die Tugend seiner Seele erkennen? Freilich konnte man es; aber du bedurftest dieser Zugabe (wie es die Beschneidung ist). Denn du ahmtest die Tugend der Seele (des Abraham) nicht nach, ja warst nicht einmal imstande, dieselbe zu erkennen; darum wurde dir die sichtbare Beschneidung gegeben, damit du mit Hilfe dieses körperlichen Mittels zur Weisheit der Seele geführt werdest und damit du durch willige Annahme dieser höchst ehrwürdigen Zeremonie dazu erzogen werdest, den Stammvater nachzuahmen und ihn zu verehren. Das war die Absicht Gottes nicht bloß bei der Beschneidung, sondern auch bei allen andern Einrichtungen, wie den Opfern, den Sabbaten und Festen. Daß Abraham in deinem Interesse die Beschneidung empfing, das höre aus dem folgenden. Nachdem der Apostel gesagt hat, daß er sie empfangen habe als ein Zeichen und ein Siegel, setzt er auch die Ursache hinzu, indem er sagt: „Damit er der Vater der Beschnittenen werde“, nämlich derer, die auch die geistige Beschneidung annehmen; denn wenn du nur diese hast, dann brauchst du nichts weiter. Denn ein Zeichen ist die körperliche Beschneidung nur dann, wenn die Sache, von der sie ein Zeichen ist, an dir zu sehen ist, das ist der Glaube; hast du den nicht, dann hört das Zeichen auf, ein Zeichen zu sein. Zu was denn ein Zeichen, zu was ein Siegel, wenn nichts zu versiegeln ist? Das wäre so, wie wenn euch jemand einen Geldsack zeigte, der ein Siegel trägt, innen aber leer ist. So ist auch die Beschneidung ein lächerlich Ding, wenn nicht innerlich der Glaube da ist. Denn wenn sie ein Zeichen der Gerechtigkeit ist, du aber keine Gerechtigkeit hast, hast du auch kein Zeichen mehr. Darum hast du ja das Zeichen empfangen, damit du dich um die Sache be- S. b137 mühest, von der du das Zeichen an dir trägst. Willst du nun das letztere haben ohne die erstere, dann bedurftest du jenes überhaupt nicht. Das ist es nicht allein, was die Beschneidung kundmacht, die Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit auch im Zustande der Unbeschnittenheit. Es macht also die Beschneidung eigentlich nichts anderes kund, als daß sie überflüssig ist.
V. 14: „Denn wenn die unter dem Gesetze Stehenden zu Erben bestimmt sind, dann ist der Glaube nichtig gemacht und die Verheißung aufgehoben“ 1
. Der Apostel hat den Beweis geführt, daß der Glaube notwendig ist, daß er älter ist als die Beschneidung, daß er stärker ist als das Gesetz, daß er das Gesetz auf festen Grund stellt. Denn wenn alle gesündigt haben, so ist er notwendig; wenn auch der Unbeschnittene (durch den Glauben) gerechtfertigt worden ist, so ist er älter; wenn durch das Gesetz die Erkenntnis der Sünde kommt, der Glaube aber ohne das Gesetz in die Erscheinung tritt, so ist er stärker; wenn er bezeugt wird durch das Gesetz und das Gesetz auf festen Grund stellt, so sind Glaube und Gesetz nicht einander entgegen, sondern in Freundschaft miteinander verbunden. Nun zeigt er wieder von einer andern Seite, daß es unmöglich war, durch das Gesetz jene Erbschaft zu erhalten. Er hat Glaube und Beschneidung nebeneinander gestellt und ersterem den Sieg zuerkannt; nun führt er wieder den Glauben auf im Gegensatz zum Gesetze, indem er sagt: „Denn wenn die unter dem Gesetze Stehenden Erben sind, dann ist der Glaube nichtig gemacht.“ Damit man nicht einwende, es sei möglich, den Glauben zu haben und das Gesetz zu beobachten, zeigt der Apostel, daß dies ausgeschlossen sei. Denn wer am Gesetze festhält als dem Mittel zum Heil, der schätzt die Kraft des Glaubens zu niedrig ein. Darum sagt er: „Der Glaube wird nichtig gemacht“, d. h. die Schenkung des Heils aus Gnade ist ja dann unnötig; dann kann ja der Glaube seine Kraft nicht erweisen und „die Verheißung ist aufgehoben“. Es könnte nämlich der Jude sagen: Was brauche ich den Glauben? Wenn das wahr ist, dann S. b138 wird mit dem Glauben zugleich auch die Verheißung aufgegeben.
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Hier ist V. 13 des Schrifttextes übergangen. ↩