4.
Nachdem nun der Apostel den Zuhörer durch diese Erörterung hat aufatmen lassen, stärkt er ihn weiter, indem er einen Einwurf in Form einer Ermahnung beantwortet. Er sagt so:
V. 15: „Wie nun? Werden wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetze sind, sondern unter der Gnade? Das sei ferne!“
— Zuerst bedient er sich einer starken Verneinung, weil ja so etwas doch zu unsinnig wäre; dann lenkt er die Rede über in eine Ermahnung und gibt zu verstehen, daß es sich bei diesem Kampfe um etwas ganz Leichtes handle. Er sagt so: S. b199 V. 16: „Wisset ihr nicht, daß ihr Diener dessen seid, dem ihr euch hingegeben habt zum Gehorsam und dem ihr gehorcht, entweder (Diener) der Sünde zum Tode oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit?“
— Ich will nicht reden, spricht der Apostel, von der Hölle und der großen Strafe im Jenseits, sondern nur von der Schande, die schon im Diesseits darin liegt, daß ihr Sklaven werdet, und zwar freiwillig Sklaven, Sklaven der Sünde, und das um einen solchen Lohn, nämlich daß ihr wieder sterben müßt. Denn wenn die Sünde vor der Taufe den Tod des Leibes bewirkt hat und wenn zur Heilung dieser Wunde erforderlich gewesen ist, daß der Herr aller Dinge in den Tod ging, um das Übel gut zu machen, was wird sie erst für einen Schaden anrichten, wenn du dich von neuem, und zwar freiwillig, unter ihr Joch begibst, nachdem du ein solches Gnadengeschenk und die Freiheit empfangen hattest? — Lauf also nicht diesem Abgrund zu! Verrate nicht freiwillig dich selbst! Im Kriege kommt es oft vor, daß die Soldaten gegen ihren Willen verraten werden; hier aber kann dich niemand bezwingen, wenn du nicht selbst zum Überläufer wirst. — Nachdem der Apostel seinen Zuhörern vom Standpunkte der bloßen Schicklichkeit zugesetzt hat, versetzt er sie in Furcht durch den Hinweis auf die Kampfpreise. Er stellt ihnen nämlich den Lohn beider — der Tugend und der Sünde — vor Augen: Gerechtigkeit und Tod, und zwar nicht den leiblichen Tod, sondern einen Tod, der weit schlimmer ist als dieser. Denn wenn Christus nicht mehr stirbt, wer wird diesen Tod aufheben? Niemand. Also folgt der Sünde mit Notwendigkeit (ewige) Bestrafung und Rache; denn es gibt ja dann keinen sinnlich wahrnehmbaren Tod mehr wie im Diesseits, der dem Leben des Leibes ein Ziel setzt, indem er ihn von der Seele trennt „Der letzte Feind ist ja abgetan, der Tod“ 1. Darum ist die Strafe unsterblich. Sie trifft aber nicht die, welche (Gott) gehorsam gewesen sind; sondern im Gegenteil, ihr Lohn wird Gerechtigkeit sein und alles Gute, das dieser entsproßt. S. b200 V. 17: „Gott aber sei Dank, daß ihr, ehedem Knechte der Sünde, nunmehr aber gehorsam geworden seid von Herzen der Form der Lehre, welcher ihr übergeben worden seid.“
Der Apostel hat seine Zuhörer durch den Hinweis auf ihre Stellung als Diener niedergedrückt; er hat sie in Furcht gesetzt durch den Hinweis auf die Kampfpreise und ihnen zugleich eine Mahnung erteilt; nun richtet er sie wieder auf durch die Erinnerung an die empfangenen Wohltaten. Darum weist er darauf hin, daß sie von großen Übeln befreit worden seien, und zwar nicht durch eigene Arbeit, und daß das noch Bevorstehende um so leichter sein werde. Gleichwie jemand einen Gefangenen, den er von einem grausamen Tyrannen befreit hat, an seine (frühere) arge Bedrückung erinnert, wenn er ihn bestimmen will, nicht mehr zu seinem Bedrücker zurückzukehren, so weist auch Paulus seine Zuhörer mit Nachdruck hin auf die Übel, die ihnen (als Folge der Sünde) zugestoßen waren; er tut dies in Form einer Danksagung an Gott. Es lag ja in keines Menschen Macht, will er sagen, euch von allen jenen Übeln zu befreien, sondern Gott gebührt der Dank, der es gewollt und gekonnt hat. — Treffend sagt er auch: „Ihr seid gehorsam geworden von Herzen.“ Ihr seid nicht durch innere Notwendigkeit noch durch äußere Gewalt gezwungen worden, sondern ihr habt freiwillig und mit Begeisterung den neuen Weg betreten. Darin liegt ein Lob und zugleich ein Tadel. Denn wenn ihr freiwillig gekommen seid ohne irgendeinen Zwang, wie sollt ihr Verzeihung, wie sollt ihr Entschuldigung verdienen, wenn ihr auf den früheren Weg zurückkehrt? — Damit man ferner ersehe, daß das ganze nicht einzig und allein ihrem guten Willen, sondern auch der Gnade Gottes zu danken sei, fährt er nach den Worten „gehorsam geworden seid von Herzen“ fort: „der Form der Lehre, welcher ihr übergeben worden seid“. Der Gehorsam „von Herzen“ bringt das freiwillige zum Ausdruck, das „übergeben worden sein“ deutet den Beistand Gottes an. —Was ist das, „die Form der Lehre? Recht zu leben und einen sehr guten sittlichen Wandel zu führen. S. b201 V. 18: „Befreit von der Sünde, seid ihr in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt worden.“
— Zwei Geschenke Gottes nennt hier der Apostel: Daß wir von der Sünde befreit worden sind, und daß wir der Gerechtigkeit dienen, was besser ist als alle Freiheit. Gott hat mit uns so gehandelt, wie wenn jemand ein Waisenkind, das von Feinden in ein fremdes Land verschleppt war, nicht bloß aus der Gefangenschaft befreite, sondern ihm auch ein zärtlich besorgter Vater würde und es zur höchsten Würde gelangen ließe. Dasselbe ist uns widerfahren. Gott hat uns nicht bloß von den alten Übeln befreit, sondern auch einem (neuen) engelgleichen Leben zugeführt; er hat uns die Bahn für einen vollkommenen Wandel geebnet, er hat uns unter den Schutz der Gerechtigkeit gestellt, die alten Übel beseitigt, den alten Menschen ertötet und uns zu unsterblichem Leben geführt. Laßt uns also auf dieser Lebensbahn verharren! Es gibt nämlich viele, die zu atmen und zu gehen scheinen, aber trotzdem sich in einem schlimmeren Zustand befinden als Tote.
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1 Kor. 15, 26. ↩