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Kap. VII, V. 14—25 u. Kap. VIII, V. 1—11.
V. 14: „,Denn wir wissen, daß das Gesetz geistig ist; ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde.“
Bisher hat der Apostel ausgeführt, daß großes Unheil geschehen, daß die Sünde stärker geworden ist als das Gesetz, daß das Gegenteil von dem erfolgt ist, was das Gesetz wollte, und hat damit den Zuhörer stutzig gemacht. Jetzt gibt er den Grund an, warum es so gekommen ist. Zuvörderst reinigt er das Gesetz von dem Verdacht der Schuld. Damit man nämlich, wenn man hört, daß die Sünde durch das Gesetz „Anlaß bekam“, daß sie „auflebte“, als es erschien, daß sie durch dasselbe den Menschen verleitete und ihm den Tod brachte, damit man nicht, sag ich, zu der Meinung komme, das Gesetz sei die Ursache von allen diesen schlimmen Folgen gewesen, darum beginnt er zunächst mit einer geschickten Verteidigung desselben. Er spricht es nicht allein frei von jeder Anklage, sondern hält ihm auch eine glänzende Lobrede. Er läßt dieses Lob nicht als seine persönliche, wohlwollende Meinung erscheinen, sondern spricht es als allgemein geltende Anschauung aus. „Denn wir wissen“, sagt er, „daß das Gesetz geistig ist“, als wollte er sagen: Darüber sind wir alle einer Meinung" das ist ganz offenkundig, daß es geistig ist; so weit ist es entfernt, schuld an der Sünde und verantwortlich für das Böse zu sein, das aus ihm hervorging. Beachte, wie er es nicht bloß von einer Anklage freispricht, sondern ihm überschwengliches Lob spendet. „Geistig“ nennt er es und drückt damit aus, daß es ein Lehrer der Tugend und ein Feind der Sünde sei. Das will das „geistig sein“ sagen: Daß es fern hält von jeder Sünde. Und das hat das Gesetz denn auch getan mit seinen Drohungen, Ermahnungen, Strafreden, Zurechtweisungen und all seinen Ratschlägen zur Tugend. — Woher ist also die Sünde gekommen, fragt er, wenn der Lehrer so großartig war? Von der Untüchtigkeit S. b240 der Schüler. Darum fährt er fort: „Ich aber bin fleischlich“ und beschreibt damit den Menschen, wie er während und vor der Zeit des Gesetzes beschaffen war. — „Verkauft unter die Sünde.“ Im Gefolge des Todes, will der Apostel sagen, hat auch der Schwarm der Leidenschaften Einzug gehalten. Als nämlich der Leib sterblich geworden war, da überkam ihn notwendigerweise auch die Begierlichkeit, der Zorn, die Trauer und all das andere; diese Leidenschaften erfordern aber viel Selbstzucht, damit sie nicht, wenn sie in uns emporwirbeln, die Vernunft in den Strudel der Sünde mitreißen. An und für sich waren sie ja nicht Sünde; aber ihr ungezügeltes Überschäumen machte sie dazu. So ist der Geschlechtstrieb, um die Sache an der Hand eines Beispieles klarzumachen, nicht Sünde. Wenn er aber ins Übermaß verfällt und nicht mehr innerhalb der Schranken der Ehe bleiben will, sondern sich auf andere Weiber richtet, so wird daraus Ehebruch, aber nicht von wegen der Begierde als solcher, sondern wegen ihrer Ungezügeltheit. — Betrachte da auch das weise Vorgehen des Paulus! Nachdem er das Gesetz mit einem Lobe ausgezeichnet hat, geht er gleich wieder auf die Zeit vor dem Gesetze zurück, um zu zeigen, in welcher Lage unser Geschlecht sich damals befand und zur Zeit, als es das Gesetz bekam. Er will dadurch klarmachen, daß das Erscheinen der Gnade eine Notwendigkeit war. Das zu beweisen, ist übrigens ein durchgängiges Bestreben von ihm. Mit dem Ausdruck „verkauft unter der Sünde“ meint nämlich der Apostel nicht bloß die Menschen während der Gesetzeszeit, sondern auch die, welche vorher lebten vom Anbeginn der Welt an. — Dann spricht er von der Art des Verkauft- und Ausgeliefertseins:
V. 15: „Denn das, was ich vollbringe, erkenne ich nicht.“
— Was heißt: „Ich erkenne es nicht“? — Ich weiß es nicht. Und wieso das? Es sündigt ja doch niemand in Unwissenheit. Siehst du, wie tausenderlei Ungereimtheiten herauskommen können, wenn wir die Worte des Apostels nicht mit Vorsicht nehmen, und nicht auf die Absicht achten, die er mit ihnen verfolgt? Wenn sie in S. b241 Unwissenheit sündigten, waren sie ja doch nicht strafwürdig. In diesem Sinne sagt er oben: „Ohne Gesetz war die Sünde tot.“ Er will damit nicht gesagt haben, daß die damaligen Menschen beim Sündigen überhaupt nichts davon wußten, sondern daß sie zwar darum wußten, aber nicht so genau. Darum wurden sie zwar auch gestraft, aber nicht so streng. Und wieder heißt es: „Ich hätte nichts gewußt von der Begierde.“ Der Apostel meint damit nicht eine vollständige Unkenntnis, sondern nur den Mangel einer ganz klaren Erkenntnis. Er hat weiter gesagt: „Das Verbot wirkte in mir jegliche Begierde.“ Er will damit nicht gesagt haben, daß es die Begierde geschaffen habe, sondern daß die Sünde infolge des Verbotes eine Steigerung der Begierde mit sich gebracht hat. Ebenso meint der Apostel hier nicht eine vollständige Unkenntnis, wenn er sagt: „Was ich vollbringe, erkenne ich nicht.“ Wie konnte er sonst Freude haben am Gesetze Gottes dem inneren Menschen nach? Was bedeutet also das „Ich erkenne es nicht“? Soviel als: Ich tappe im Finstern, ich werde überrascht, ich werde vergewaltigt, ich weiß nicht, wie mir geschieht. So pflegen auch wir zu sagen: „Ich weiß nicht, wie der mich eingefangen hat“, und wollen damit nicht ein völliges Nichtwissen ausgedrückt haben, sondern ein gewisses Hintergangensein, eine Überlistung, eine Nachstellung.
„Denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das tue ich.“
— Wie weißt du also nicht, was du vollbringst? Wenn du das Gute willst und das Böse hassest, so ist das ja das Zeichen eines vollständigen Wissens. Daraus ist ersichtlich, daß der Apostel mit dem Ausdruck „Was ich nicht will“ keine Aufhebung des freien Willens meint und nicht eine unbedingte Notwendigkeit behauptet. Denn wenn wir nicht freiwillig, sondern gezwungen gesündigt haben, dann hat es keinen Sinn, daß früher Strafgerichte statthatten. Aber geradeso wie der Apostel mit dem Ausdruck „Ich weiß es nicht“ nicht ein vollständiges Nichtwissen gemeint hat, sondern ein solches in dem oben erklärten Sinn, so weist S. b242 er auch mit dem „Was ich nicht will nicht auf eine Notwendigkeit (im Handeln) hin, sondern auf ein Nichtbilligen dessen, was tatsächlich geschieht. Wenn der Apostel mit den Worten: „Was ich nicht will, das tue ich“ nicht das gemeint hätte, so hatte er ja fortfahren müssen: „Sondern, wozu ich gezwungen bin, wozu ich mit Gewalt genötigt werde, das tue ich. Denn das wäre der Gegensatz zum freien Wollen. Nun sagt er das aber nicht, sondern statt dessen wählt er den Ausdruck: „Was ich hasse“, damit du daraus ersehen sollst, daß auch der Ausdruck: „Was ich nicht will“ die Willensfreiheit nicht aufhebt. — Was hat also das „Was ich nicht will“ für einen Sinn? Es heißt soviel als: Was ich nicht lobe, was ich nicht billige, was ich nicht gern habe. Im Gegensatz dazu fährt er fort: „Sondern was ich hasse, das tue ich.“
V. 16: „Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so stimme ich dem Gesetze bei, daß es gut sei.“
