VI.
Da wir nun Dieses gehört haben, so lasset auch uns unsere Fehler offen bekennen, die guten Werke aber verschweigen; machen es aber die Umstände nöthig, darüber zu sprechen, dann lasset uns Dieß mit Bescheidenheit thun, und Alles der Gnade zuschreiben. So macht es auch der Apostel: überall und immer brandmarkt er sein früheres Leben, schreibt aber der Gnade zu, was er später gewirkt, um überall auf Gottes Erbarmung zu weisen, die ihn aus einem solchen Zustande gerettet, und zu einem solchen Amte erhoben. Kein Sünder möge also verzweifeln, kein Gerechter auf seine Tugend vertrauen; Dieser möge fürchten, Jener aber frohen Muth fassen; denn kein Träger wird in der Tugend verharren, und Keiner, der sich’s ernstlich angelegen sein läßt, wird zu schwach sein, das Laster zu fliehen. Ein Beispiel für Beide ist der heilige David, der tief gefallen ist, als er anfing zu schlummern, aber wieder zu seiner frühern Höhe sich aufschwang, als er seine Sünden bereute. Denn Beides ist gleichmäßig gefehlt: sowohl, verzweifeln, als sorglos und nachläßig sein; denn das Eine stürzt den Menschen, und wäre dieser auch bis zum Himmel gestiegen; das Andere macht, daß der Gefallene sich nicht wieder erhebt. Darum spricht Paulus zum Einen: „Wer da vermeint, zu stehen, der sehe zu, daß er nicht falle;“ zum Andern aber: „Heute, wenn ihr seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht!“ Und wieder: „Stärket die laffen Hände und die gelähmten Kniee.“1 Darum S. 677 richtet er den Unzüchtigen, nachdem dieser Buße gethan, wieder auf, damit er sich nicht in allzugroßem Kummer verzehre. Was grämst du dich also, o Mensch, über andere Dinge? Denn wenn schon bei den Sünden, bei denen allein die Trauer eine heilsame ist, ihr Übermaß schadet, so ist Dieß um so viel mehr bei andern Dingen der Fall. Warum grämst du dich denn? Weil du dein Vermögen verloren? Denke an Diejenigen, die sich nicht einmal mit Brod sättigen können, und du wirst sogleich Trost finden. Was dir auch immer Hartes begegnet, weine nicht über Das, was dich getroffen, sondern danke für Das, was dich nicht traf. Du hattest Vermögen, und hast es verloren ? Weine nicht über den Verlust, sondern danke für die Zeit, während der du die Güter genossen; sprich mit Job: „Haben wir vom Herrn das Gute empfangen, sollen wir nicht auch das Schlimme annehmen?2 Erwäge nebst Dem ferner noch Dieses: Bist du auch um dein Vermögen gekommen, so hast du doch noch einen gesunden Leib, und bei der Armuth nicht auch noch über Krankheit zu klagen. Oder hat vielleicht auch dein Körper eine Verstümmelung erlitten? auch dann bist du noch nicht in das tiefste menschliche Elend versunken, sondern du schwebst noch in der Mitte. Denn Viele haben neben ihrer Armuth und Körperverletzung auch noch mit dem Teufel zu kämpfen, und irren in Einöden umher; Andere haben noch schrecklichere Leiden zu tragen, als diese. Es dürfte wohl nie geschehen, daß wir Alles leiden, was ein Mensch zu leiden vermag! Das mußt du also beständig erwägen und an Diejenigen denken, die Härteres leiden, und kränke dich über keines der Übel! Wenn du aber gesündigt hast, dann seufze, dann weine; Dieses verbiete ich nicht, vielmehr ermahne ich dazu; aber auch da weine mit Mäßigung und bedenke, es gebe eine Rückkehr, eine Versöhnung. — Aber du siehst, daß Andere im Überfluß leben, du aber in Armuth; daß Mancher in prachtvollen Kleidern prunkt, S. 678 du aber ein geringes Gewand trägst? Jedoch schau nicht auf diesen Wohlstand allein, sondern auch auf die damit verbundenen Beschwerden. Bei der Armuth siehe nicht bloß auf den Zustand des Bettlers, sondern auch auf das Vergnügen, das ihm daraus erwächst. Denn der Reichthum hat zwar eine heitere Aussenseite, im Innern aber ist Alles voll Dunkel; bei der Armuth findet das Gegentheil statt; und wenn du das Gewissen des Armen und des Reichen entfaltest, so wirst du in der Seele des Ersteren große Ruhe und Sicherheit finden, in der Seele des Letzteren aber Aufruhr, Verwirrung und Sturm. Schmerzt es dich aber, zu sehen, daß Einer reich ist, so schmerzt es diesen noch mehr, wenn er einen Reicheren, als er selber ist, sieht; und gleichwie du dich vor ihm fürchtest, so fürchtet er sich vor Jenem, und darin hat er vor dir keinen Vorzug. Oder thut es dir leid, daß Jener eine obrigkeitliche Person ist, du aber ein gemeiner Unterthan bist? Denke an den Tag, an dem er einen Nachfolger im Amte bekommt, und vor jenem Tage an die Unruhen, die Gefahren, die Strapazen, die Schmeicheleien, die schlaflosen Nächte und alle andern Beschwerden. So sprechen wir zu Denjenigen, die nicht nachdenken wollen; verständest du diese Kunst, so konnten wir dir höhere Trostgründe anführen; einstweilen müssen wir uns begnügen, dich mehr mit sinnlichen Dingen zu überzeugen. Siehst du somit einen Reichen, so denke dir einen Andern, der noch reicher ist, und Jener wird dir gleich zu sein scheinen. Dann denke dir aber auch einen Andern, der noch ärmer ist als du; denke, wie Viele vor Hunger gestorben sind, ihr väterliches Erbgut eingebüßt haben, im Gefängnisse schmachten, und sich täglich den Tod wünschen. Denn Armuth bringt keinen Gram, und Reichthum bringt keinen Frohsinn, sondern das Eine wie das Andere hängt ab von unserer Gesinnung. Stelle da eine Betrachtung an und beginne von den niedrigsten Dingen: Der Misthändler grämt und beklagt sich, daß er von diesem elenden und schimpflich scheinenden Geschäfte nicht frei ist. Würde man ihn aber davon befreien und ihm die nothwendigen S. 679 Lebensbedürfnisse sicher zukommen lassen; so würde er sich wieder beklagen, daß er nicht mehr besitze, als was ihm nothwendig ist. Und gäbst du ihm mehr, so würde er das Doppelte fordern, und sich darüber ebenso grämen wie vorher. Und gäbst du ihm zwei-, dreimal soviel, so würde er sich darüber ärgern, daß er kein öffentliches Amt hat. Und hätte er Dieses, so würde er sich für unglücklich halten, daß er nicht zu den höchsten Staatsbeamten gehöre. Und hätte er diese Ehre erlangt, so würde er klagen, daß er nicht obenan stehe. Und wäre er dazu gelangt, so wäre er unzufrieden, daß er nicht über ein ganzes Volk zu gebieten habe; und besäße er die Oberherrschaft über ein ganzes Volk, so wäre ihm Dieses zu wenig, er möchte mehrere Völker beherrschen; und wäre ihm Dieses gegönnt, so würde er sich kränken, daß er nicht Alle beherrsche. Ist er Statthalter, so wünschte er König zu sein; ist er König, so möchte er es allein sein; ist er es allein, so wünschte er auch über die Fremden zu herrschen und über die ganze Welt zu gebieten, — und warum nicht auch über die andere Welt? So erstrecken sich seine Wünsche in’s Ungemessene hin und lassen ihn niemals froh werden.