I.
17. Darum sandte ich zu euch den Timotheus, der mein geliebter und getreuer Sohn ist im Herrn; Dieser wird euch meine Wege in Christus Jesus in Erinnerung bringen.
I. Betrachte mir auch hier die edle Seele, die lebhafter lodert als eine brennende Flamme! Er selbst wünschte bei den Korinthern zu sein, besonders in ihrem Zustande der Krankheit und Spaltung; denn er wußte gar wohl, wie viel seine Gegenwart den Schülern nütze und seine Abwesenheit ihnen schade. Jenes gibt er zu erkennen im Briefe an die Philipper mit den Worten: „Nicht bloß in meiner Gegenwart, sondern um so mehr nun in meiner Abwesenheit strebet mit Furcht und Zittern nach eurer Seligkeit!“1 Dieses aber zeigt er in demselben Briefe mit den Worten:
S. 226 18. 19. Einige haben zwar die stolze Einbildung, als würde ich nicht zu euch kommen; aber ich werde kommen.
Er sehnte sich und wünschte persönlich bei ihnen zu sein; da ihm aber Dieß jetzt nicht möglich war, so sucht er sie durch das Versprechen seiner Ankunft zu bessern, und nicht allein dadurch, sondern auch durch die Absendung seines Schülers. Denn „darum“, sagt er, „sandte ich zu euch den Timotheus.“ Darum: warum? Weil ich euer Vater und um euch als meine Söhne besorgt bin. Zugleich wird im Briefe, der Abgesandte empfohlen: „Der mein geliebter und getreuer Sohn ist im Herrn.“ Dieses sagt er, um seine Liebe zu ihm an den Tag zu legen und ihm bei seinem Erscheinen Achtung zu verschaffen. Und er nennt ihn nicht einfach getreu, sondern „getreu im Herrn“, das heißt: in den Angelegenheiten des Herrn. Wenn es schon Lob verdient, in irdischen Dingen getreu zu sein, so verdient die Treue in geistigen Dingen ein noch viel größeres Lob. Da nun Timotheus der „geliebte“ Sohn Pauli ist, so bedenke, wie groß die Liebe des Paulus zu den Korinthern sei, da er ihretwegen sich von ihm zu trennen beschloß. Und da er auch ein „getreuer“ Sohn ist, so wird er gewiß tadellos seinen Auftrag erfüllen. „Dieser wird euch in Erinnerung bringen,“ nicht lehren, sagt er, damit sie es nicht übel aufnähmen, wenn sie seine Schüler hießen. Darum sagt er auch am Ende: „Er arbeitet am Werke des Herrn, sowie auch ich;“2 Niemand soll ihn also gering schätzen. Denn unter den Aposteln herrschte kein Neid; sie hatten einzig das Wohl der Kirche im Auge; und wenn der Arbeitende schwach war, so kamen sie ihm mit allem Eifer zu Hilfe. Darum sagt Paulus nicht bloß: „Er wird in Erinnerung bringen,“ sondern führt die Rede noch weiter und fügt um allen Neid wegen der Jugend des Timotheus zu ver- S. 227 hüten, hinzu: „meine Wege,“ nicht seine, sondern meine, d. h. meine Verwaltung, die Gefahren, die Sitten, die Gesetze, die Gebräuche, die apostolischen Vorschriften und alles Andere. Da er auch gesagt hatte: „Wir sind entblößt und werden in’s Gesicht geschlagen und sind heimathlos,“ so wird er euch auch Dieß alles in Erinnerung bringen, sowie die Gesetze Christi, um den Spaltungen ein Ende zu machen. Hierauf lenkt er die Rede auf das Höhere und fügt bei: „in Christus“ und bezieht so, seiner Gewohnheit gemäß, Alles auf den Herrn und verschafft sich dadurch für das Folgende Glaubwürdigkeit, weßhalb er auch beifügt: „Wie ich überall in der ganzen Kirche lehre.“ Ich habe zu euch nichts Neues geredet, was mir alle übrigen Kirchen bezeugen. Er nennt aber diese Wege „Wege in Christo“, um zu zeigen, daß es nicht Menschenwerk sei, und daß er Alles unter dem Beistande Christi vollbringe. Nachdem er also geredet und sie zu gewinnen gesucht hat, will er zur Anklage des Unzüchtigen schreiten und spricht abermals Worte voll des Unwillens, nicht zwar selbst zürnend, sondern in der Absicht, Jene auf bessere Wege zu bringen. Er läßt den Unzüchtigen vorerst bei Seite, würdigt ihn nicht einmal der Anrede, sondern wendet sich an die Andern, wie auch wir es mit Sklaven machen, die sich arg verfehlt haben. Da er gesagt hatte: „Ick sende den Timotheus,“ so spricht er ferner, damit sie darob nicht nachlässiger würden: „Einige haben zwar die stolze Einbildung, als würde ich nicht zu euch kommen.“ Denn damit greift er sie und einige Andere an und erschüttert ihre stolze Einbildung. Denn es verdient den Vorwurf der Herrschsucht, wenn man die Abwesenheit des Lehrers zum Übermuthe benützt. Betrachte aber, wie schonend er die Menge zurechtweist, die Parteihäupter aber heftiger angreift! Zu jener sagt er: Wir werden wie „ein Auskehricht Aller“ gehalten, und besänftigend spricht er: „Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich Dieß;“ zu diesen aber: „Einige haben zwar die stolze Einbildung, als würde ich nicht zu euch kommen,“ wodurch er zeigt, daß dieser Stolz ein kin- S. 228 discher sei; denn die Kinder pflegen in Abwesenheit der Lehrer träger zu sein. Dieß wird also angedeutet und zugleich, daß seine Anwesenheit zur Herstellung der Ordnung genüge.
