I.
7. Auf Das, was in die Augen fällt, seht ihr. Wenn Jemand sich zutraut, Christi zu sein, so erwäge er Das wiederum bei sich selbst, daß, gleichwie er Christi ist, so auch wir.
Was man wohl unter Anderem an Paulus am meisten bewundern muß, ist Dieses, daß er, in die unvermeidliche Nothwendigkeit versetzt, sich selbst hervorzuheben, es immer so einzurichten weiß, daß er sowohl das Nöthige thut, als auch durch dieses Selbstrühmen Niemand beschwerlich fällt. Das kann man insbesondere auch im Briefe an die Galater sehen. Denn auch da trat eine solche Aufgabe an ihn heran, und auch da löst er sie nach diesen beiden Beziehungen; er versteht es, was sonst ungemein schwierig ist und die größte Einsicht erfordert, sowohl die Demuth zu wahren als auch Großes von sich zu sagen. Beachte nun, wie sehr er auch hier darauf Acht nimmt. „Auf Das, was in die Augen fällt, seht ihr.“ Bemerke hier wieder seine Einsicht! Nachdem er Die getadelt hat, welche ihm die Seinigen irre führten, so läßt er es dabei nicht bewenden, sondern geht alsbald von den Gegnern zu den S. 348 Seinigen über; und in dieser Weise pflegt er immer zu verfahren. Er richtet seinen Tadel nicht bloß gegen die Verführer, sondern auch gegen die Verführten. Denn ließe er es den Letzteren ungeahndet hingehen, so würden sie sich aus den Zurechtweisungen Anderer nicht so leicht bessern; sie würden sich vielmehr stolz überheben, als verdienten sie keinerlei Vorwurf. Darum tadelt er auch sie. Und nicht Das allein ist an ihm zu bewundern, sondern daß der Tadel auch beiden Theilen genau angemessen ist. Höre nur, was er zu Diesen sagt! „Auf Das, was in die Augen fällt, seht ihr.“ Das ist kein geringer Vorwurf, vielmehr ein sehr großer. Inwiefern? So ist einmal das sterbliche Geschlecht, will er sagen, daß es gar leicht sich täuschen läßt. Und damit will er ausdrücken: Ihr urtheilt nach dem Augenfälligen, nach dem Fleischlichen, nach dem Sinnlichen. Was heißt denn. Nach dem Augenfälligen? Ihr seht darauf, ob Einer reich ist, ob er sich wichtig macht, ob er viele Schmeichler um sich hat, ob er eine hohe Sprache führt, ob er nach Ehre hascht, ob er Tugend heuchelt, ohne Tugend zu besitzen; denn Das liegt in den Worten: „Auf Das, was vor Augen liegt, seht ihr.“
„Wenn Jemand sich zutraut, Christi zu sein, so erwäge er Das wiederum bei sich selbst, daß, gleichwie er Christi ist, so auch wir!“ Der Apostel will nicht gleich anfangs allzu streng werden, sondern in allmähligem Fortschreiten sich zu immer höherer Stufe erheben. Und beachte, wie drohend hier schon die Rede wird, und wie sie mehr noch errathen läßt, als sie ausspricht. Denn in den Worten: „Bei sich selbst“ liegt der Sinn: Er möge nur nicht warten, bis er es von uns, d. h. durch unseren Tadel erfährt, sondern Das erwäge er bei sich selbst, daß, gleichwie er Christi ist, so auch wir; nicht als gehörten wir in gleichem Grade wie er Christo an, sondern: „Sowie er Christi ist, so bin auch ich Christi.“ Hierin besteht Gemeinschaft; denn nicht gehört etwa er Christo an und ich jemand Anderem. Und nachdem Paulus S. 349 hierin die Gleichheit zugestanden, so fügt er nun auch Das hinzu, worin er voransteht, wenn er sagt:
8. Denn würde ich mich auch eines Mehreren rühmen ob der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat zum Aufbauen und nicht zum Niederreissen, so würde ich nicht beschämt werden.
Da er Großes von sich zu sagen hat, so siehe, wie vorsichtig er dabei zu Werke geht. Denn an Nichts nimmt die große Zahl der Zuhörer solchen Anstoß, als wenn Jemand sein eigenes Lob verkündet. Um daher keinen ungünstigen Eindruck aufkommen zu lassen, so wählt Paulus diese Wendung: „Würde ich mich auch eines Mehreren rühmen.“ Und er sagt nicht: Wenn Jemand sich zutraut, Christi zu sein, so bedenke er, daß er noch weit hinter uns zurücksteht; denn ich habe von Christus eine große Macht, so daß ich züchtigen und tödten kann, wen ich will. Er spricht nur: „Würde ich mich auch eines Mehreren rühmen.“ Er hätte sich nun wohl eines Unendlichen rühmen können, aber dennoch wählt er den bescheidensten Ausdruck. Und er sagt nicht: Ich rühme mich, sondern: „Wenn ich mich rühmen würde.“ wenn ich Das wollte; so wahrt er die Demuth und gibt doch zugleich seinen Vorrang zu erkennen. — „Würde ich mich nun rühmen,“ sagt er, „ob der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat.“ Wiederum führt er das Ganze auf den Herrn zurück und stellt es dar als ein Geschenk zum Nutzen Aller: „Zum Aufbauen und nicht zum Niederreissen.“ Siehst du, wie er wieder die Mißgunst beschwichtigt, die aus seinem Lobe sich erheben könnte, und wie er die Zuhörer zu gewinnen weiß, indem er auf die Verwendung hinweist, zu der ihm das Geschenk gegeben ist? Und wie kann er sagen: „Indem wir Vernunftschlüsse zerstören“? Weil gerade Das in erster Linie zum Aufbauen gehört, daß man die Hindernisse hin- S. 350 wegräumt, das Unhaltbare aufweist und die Wahrheit nahe legt. „Zum Aufbauen.“ Zu dem Zwecke haben wir die Gewalt bekommen, um aufzubauen. Wenn aber Jemand sich aus allen Kräften entgegenstemmt und unverbesserlich bleibt, gegen Den gebrauchen wir dann die andere Seite dieser Gewalt, wir zerstören und werfen nieder. Darum sagt er auch: „Ich würde nicht beschämt werden,“ d. h. nicht als Lügner oder Prahler erfunden werden.
9. 10. 11. Damit es aber nicht scheine, als wollte ich euch schrecken, — denn seine Briefe, sagen sie, sind gewichtig und kräftig, seine leibliche Gegenwart aber ist schwach und das Wort verächtlich, — so bedenke Das ein Solcher, daß, wie wir abwesend durch Briefe sind, so auch anwesend durch die That.
Damit will er sagen: Ich könnte mich wohl rühmen; aber damit sie mir nicht wieder vorwerfen, daß ich in Briefen mich groß mache, dagegen im persönlichen Auftreten verächtlich bin, so will ich mich alles Rühmens enthalten. Nun spricht er zwar nachher doch von sich, aber nicht über diese Gewalt, die ihn so furchtbar machte, sondern über Offenbarungen und zumeist über Bedrängnisse. — „Damit es nun nicht scheine, als wollte ich euch schrecken, so bedenke Das ein Solcher, daß, wie wir abwesend durch Briefe sind, so auch anwesend durch die That.“ Weil nämlich die Gegner sagten: In Briefen macht er großes Wesen von sich, ist er aber gegenwärtig, so weiß er sich kein Ansehen zu verschaffen, darum bedient sich Paulus dieser Worte; und dabei befleißt er sich der größten Zurückhaltung. Denn er sagt nicht: Wie wir Großes in Briefen sprechen, so führen wir auch Großes in der Anwesenheit aus. Seine Sprache ist viel gemäßigter. Denn sobald er an die Gegner sich wendet, so wird er S. 351 strenge und sagt: „Ich bitte aber, daß ich nicht anwesend muthig sein müsse mit der Zuversicht, mit der ich kühn aufzutreten gedenke wider Einige.“ Spricht er aber zu den Seinigen, so ist er viel milder. Darum sagt er: „Wie wir in der Anwesenheit sind, so auch abwesend,“ d. h. demüthig, zurückhaltend, uns in Nichts überhebend. Das zeigt sich klar aus dem Folgenden: