V.
So veranlaßte also den Apostel die Liebe zu entgegengesetztem Verfahren; die Gaben der Einen nahm er an, die der Andern nicht; und der Grund der Verschiedenheit liegt in der Verfassung der Geber. Und er sagt auch nicht: Ich nehme darum Nichts an, weil ich euch so sehr liebe; denn damit würde er sie der Schwäche beschuldigen und in Unruhe versetzen; er lenkt vielmehr die Rede auf eine andere Ursache. Welches ist denn diese?
12. Damit ich Denen den Anhalt benehme, die Anhalt wünschen, damit sie in Dem, worin sie sich rühmen, erfunden werden gleichwie auch wir.
Die Gegner gehen darauf aus, irgend einen Anhalt gegen uns zu finden, und diesen muß man ihnen benehmen. Denn ihre Uneigennützigkeit ist es allein, worauf sie stolz sind. Damit sie nun gar Nichts voraushätten, so mußte S. 376 man auch Dieses vorsorgen; in allem Übrigen standen sie sonst nach. Denn Nichts dient, wie schon bemerkt, den gewöhnlichen Menschen so zur Erbauung als die Uneigennützigkeit des Lehrers. Da nun der Teufel arglistig ist, so hatte er sich gerade dieser Tugend als Lockspeise bedient, um ihnen von anderer Seite her beizukommen. Doch scheint mir jene ganze Uneigennützigkeit der Gegner auf Heuchelei zu beruhen. Darum sagt Paulus nicht: Worin sie sich hervorgethan haben, sondern wie? „Worin sie sich rühmen,“ mit einer Hindeutung auf ihr prahlerisches Wesen; denn sie rühmten sich auch mit Vorzügen, die sie nicht hatten.
Der edle Mann aber darf sich nicht bloß in Dem nicht rühmen, was er nicht hat, sondern auch nicht in Dem, was er besitzt. So sehen wir es am heiligen Paulus, so am Patriarchen Abraham, der da sprach: „Ich aber bin Erde und Asche.“1 Er kann keine Sünden von sich anführen, er strahlt vielmehr im Glanze aller Tugenden; und obwohl er überall sucht, so findet er doch nirgends einen rechten Ausgang zu seiner Verdemüthigung, darum nimmt er zuletzt seine Zuflucht zur Natur; und weil das Wort „Erde“ noch einigermaßen annehmbar klingt, so setzt er noch „Asche“ hinzu. Darum sagt auch ein Anderer: „Was überhebt sich Erde und Asche?“2
So rede mir denn nicht mehr von der Blüthe des Antlitzes, von stolz erhobenem Nacken, von prächtigem Gewande, von Roß und Gefolge; bedenke vielmehr und füge auch bei, was zuletzt aus all Diesem wird! Und wenn du mir vom Glanze der Erscheinung redest, so verweise ich dich auf die Darstellungen in Gemälden, die noch weit prächtiger sind. Wie uns aber der Anblick jener Bilder S. 377 keine Bewunderung erweckt, da wir ihr Wesen kennen, da wir wissen, daß Alles nur Lehm ist, so hören wir denn auch hier auf, jene Pracht zu bewundern! Denn auch hier ist Alles nur Lehm, und zwar schon, bevor es sich wirklich auflöst und zu Staub wird. Zeige mir dieses stolze Haupt in der Glut des Fiebers, im Todeskampfe, und dann will ich ein Wort zu dir sprechen und dich fragen, was aus jener Pracht geworden, wohin der Schwarm der Schmeichler entschwunden ist, wo die dienstbeflissene Schaar der Diener, wo der Überfluß an Vermögen, an Besitzungen, welcher Sturmwind gekommen und Alles verweht hat. Aber, wirst du sagen, noch auf der Bahre umgeben ihn die Abzeichen des Reichthums und der Pracht; er liegt da in kostbarem Gewande, Arm und Reich gibt ihm das Geleite, und Segenssprüche sind in Aller Munde. Das ist erst noch recht ein armseliges Spiel; und ausserdem zeigt sich, wie auch Dieses rasch wie eine Blume vergeht. Denn kaum sind wir über die Schwelle der Stadtthore getreten, kaum haben wir den Leib den Würmern übergeben und kehren nun zurück, so frage ich dich wieder: Was ist aus dem Geschrei und Lärm geworden? Wo sind die Fackeln? wo die Reihen der Klageweiber? Es ist doch nicht Alles bloßer Traum? Was ist auch aus den Zurufen geworden? Wohin sind jene Stimmen verhallt, die da um die Wette schrien und riefen: Sei guten Muthes! es ist kein Tod (οὐδεὶς θάνατος)? Nicht jetzt sollte man ihm Das zurufen, wo er es nicht mehr hört, sondern damals, als er Fremdes an sich riß, als ihm nie das Seine genug war, da hätte man ihm mit geringer Änderung zurufen sollen: Traue nicht, denn Niemand ist unsterblich (οὐδεὶς ἀθάνατος); hemme den Wahnsinn, tilge die Habgier, traue nicht dem Unrecht! Denn ihm erst jetzt Solches zurufen, das heißt zu lange warten und seiner spotten; denn jetzt handelt es sich bei ihm nicht mehr darum, guten Muthes zu sein; jetzt ist es Zeit, zu fürchten und zu zittern. Doch wenn Das auch für Den keinen Sinn mehr hat, der seine Laufbahn abgeschlossen hat, so möchten es doch die Reichen S. 378 hören, die an den gleichen Gebrechen leiden, und die ihn zum Grabe geleiten! Denn weil ihnen sonst in der Trunkenheit des Reichthums nie ein derartiger Gedanke kommt, so mögen sie doch im Augenblicke, wo der Anblick des Todten das Gesamte bestätigt, zu sich kommen und sich belehren lassen; mögen sie beherzigen, daß nach einer kurzen Spanne Zeit die Nämlichen wieder kommen und auch sie wegführen werden zu jener schauerlichen Verantwortung, zur Vergebung für Alles, was sie an sich gerissen, was sie ungerecht erworben haben!
„Doch was hat Das,“ frägst du, „mit uns Armen zu thun?“ Ich weiß freilich, daß es Vielen sogar angenehm ist, wenn sie ihre Unterdrücker bestraft sehen. „Aber uns ist es nicht angenehm, wenn es nur uns selbst nicht schlimm ergeht.“ Da lobe ich euch sehr und nehme es freudig an, daß ihr euch nicht über fremdes Unglück freut, daß ihr vielmehr nur die eigene Ungestraftheit wünscht. Wohlan denn, auch dafür will ich euch Sicherheit geben! Wenn uns nämlich von Menschen Übles widerfährt und wir das Geschehene geduldig ertragen, so vermindern wir um nicht Weniges unsere Schuld. Demnach sind wir nicht im Nachtheile; denn Gott rechnet uns die erlittene Kränkung für unsere Schuld an, zwar nicht nach dem strengen Rechte, wohl aber nach seiner Güte und Liebe. Darum nimmt er sich auch gemeiniglich nicht gleich Anfangs der Unterdrückten an. „Und woraus ist Das ersichtlich?“ frägst du. Den Juden erging es einst schlimm von Seiten der Babylonier, und Gott hinderte es nicht; Frauen und Kinder wurden gefangen weggeführt; aber nachher ward ihnen die Gefangenschaft bezüglich der Anrechnung ihrer Sünden zum Troste. Darum spricht der Herr bei Isaias: „Tröstet, ja tröstet mein Volk, ihr Priester; sprechet zum Herzen Jerusalems, daß sie aus der Hand des Herrn zweifach ihre Sünden empfangen hat“3 und wiederum. „Gib uns S. 379 Frieden; denn Alles hast du uns wiedervergolten!“4 Und David spricht: „Siehe meine Feinde, wie sie sich gemehrt haben, und erlasse mir all’ meine Sünden!“5 Und als er die Verwünschungen des Semei zu ertragen hatte, da sprach er: „Laß ihn, damit der Herr meine Erniedrigung sehe und mir wiedervergelte für diesen Tag.“6 Wenn nämlich Gott sich unserer Unterdrückung nicht annimmt, so erwächst uns daraus der größte Nutzen; denn er rechnet es uns zum Verdienste an, wenn wir das Unrecht unter Danksagung ertragen.
Siehst du daher einen Reichen, der den Armen ausplündert, so laß den Geschädigten und beweine den Plünderer! Denn der Eine reinigt sich vom Schmutz, dem Anderen legt er sich tiefer an. So ging es auch dem Diener des Elisäus zur Zeit Naamans; er raubte zwar nicht gewaltsam, aber es bleibt doch auch Unrecht, Etwas mit Trug zu nehmen. Was geschah nun? Er bekam zu seiner Ungerechtigkeit auch den Aussatz; und Der, welcher das Unrecht litt, hatte Gewinn, Der aber, welcher es verübte, den größten Schaden. So geschieht es auch jetzt bei der Seele. Und Das hat solche Kraft, daß es allein schon hinreiche Gott zur Gnade zu bestimmen. Mag auch der Bedrängte noch so unwerth der Hilfe sein, wenn einmal sein Elend alles Maß überschreitet, so genügt Das allein schon, um Gott zur Verzeihung und zum Beistande gegen die Unterdrücker zu bewegen. Darum sprach Gott schon vor Alters zu den Barbaren: „Ich habe sie überlassen zu Wenigem, sie aber haben zu den Übeln noch hinzugegeben;“7 darum verfallen sie der unheilbaren Strafe. Denn Nichts, gar Nichts erzürnt Gott so sehr, als wenn man den Nebenmenschen beraubt, bedrückt und ausbeutet. Warum denn wohl? Weil es gar leicht ist, sich dieser S. 380 Sünde zu enthalten. Denn sie ist nicht eine in der Natur liegende, ruhelose Leidenschaft, sie hat vielmehr in sträflichem Sichgehenlassen ihren Ursprung.
„Warum nennt sie dann der Apostel Wurzel der Übel?“ Auch ich nenne sie so; aber durch unsere Schuld ist diese Wurzel, nicht nach der Natur der Sache. Und wenn es beliebt, so wollen wir einen Vergleich anstellen, was unbezwinglicher ist, die Habsucht oder die Sinnlichkeit; und welche von diesen Leidenschaften große Männer zum Falle gebracht hat, diese ist schwerer zu überwinden. Finden wir demnach irgend einen großen Mann, den die Habsucht beherrscht hat? Nein; es sind nur ganz jämmerliche, verächtliche Gestalten, ein Giezi, ein Achab, ein Judas, die jüdischen Priester; aber die Sinnlichkeit hat einen großen Propheten, David, überwunden. Und damit will ich nicht Diejenigen entschuldigen, die von dieser Leidenschaft sich fortreissen lassen, sondern sie vielmehr zur Wachsamkeit ermahnen. Denn indem ich die Größe des Gebrechens zeige, so zeige ich damit gerade, daß sie sich keine Hoffnung auf Nachsicht machen dürfen. Würdest du nämlich das Ungeheuer nicht kennen, so könntest du zu eben dieser Unkenntniß deine Zuflucht nehmen; nachdem du es aber kennst, so bleibt dir keine Entschuldigung mehr, wenn du dich ihm doch in den Rachen wirfst.
Nach David aber beherrschte diese Leidenschaft noch weit mehr seinen Sohn; und doch hat ihn Niemand an Weisheit übertroffen, und auch von den übrigen Tugenden fehlte ihm keine; aber dennoch fiel er dieser Leidenschaft so völlig zum Opfer, daß sie ihm sogar tödtliche Wunden schlug. Sein Vater stand wieder auf, begann den Kampf von neuem und gewann wiederum den Sieg; aber vom Sohne hören wir nichts Solches. Darum sagt auch Paulus: „Besser ist heiraten als brennen;“8 und S. 381 Christus:* „Wer es zu fassen vermag, der fasse es!“9 Aber nicht so von Geld und Gut, sondern: „Wer seine Habe verläßt, der wird sie hundertfach wieder bekommen.“10
„Warum sagt nun aber Christus von den Reichen,“ höre ich fragen, „daß sie so schwer zum Himmelreich gelangen?“ Das sagt er wiederum mit Rücksicht auf ihre Schlaffheit; daran ist nicht die unbezwingliche Gewalt des Geldes schuld, sondern ihre gar arge Dienstbarkeit. Und Dieß geht aus den Rathschlägen hervor, die Paulus gegeben hat. Denn vor der Habgier warnt er mit den Worten: „Die da reich werden wollen, gerathen in Versuchung;“ aber anders bei der Begierlichkeit; hier will er nur für eine Zeit lang die Trennung gestatten, und zwar nach gegenseitiger Übereinstimmung, dann empfiehlt er wieder das Zusammenleben. Denn er fürchtet die Wogen dieser Leidenschaft, er fürchtet einen verderblichen Schiffbruch.
Diese Leidenschaft ist auch mächtiger und nachhaltiger als der Zorn; denn zürnen kann man ja nicht, wenn Niemand zum Zorne reizt; aber der Begierlichkeit kann man sich nicht entschlagen, mag auch der Gegenstand, der sie entzündet, nicht vor Augen sein. Darum verbietet auch der Herr nicht das Zürnen überhaupt, sondern das Zürnen „ohne Grund“; und Paulus will nicht die Begierlichkeit überhaupt beseitigt wissen, sondern nur die ungehörige Begierlichkeit; denn „um der Begierlichkeiten willen,“ sagt er, „habe Jeder sein eigenes Weib!“11 Aber Schätze zu sammeln gestattet der Herr weder ohne Grund noch mit Grund. Denn jene Triebe sind den Menschen um eines Bedürfnisses willen eingepflanzt; so die Begierlichkeit zur Fortpflanzung des Geschlechtes, der Zorn S. 382 zur Abwehr der Unbilden; aber die Habsucht keineswegs. Darum ist sie auch keine natürliche Leidenschaft. Fällst du daher dieser anheim, so verdienst du um so mehr die schlimmste Strafe. Darum verlangt denn auch Paulus, der doch die zweite Ehe gestattet, in Sachen von Hab und Gut die größte Genauigkeit. „Warum laßt ihr euch nicht lieber beeinträchtigen?“ frägt er; „warum laßt ihr euch nicht lieber berauben?“12 Und wenn er von der Jungfräulichkeit handelt, so spricht er: „Einen Auftrag vom Herrn habe ich nicht;“ und: „Zu eurem Frommen sage ich Das, nicht um euch eine Schlinge umzuwerfen.“13 Ist aber von Geld und Gut die Rede, so sagt er: „Haben wir Nahrung und Kleidung, so laßt uns damit zufrieden sein.“14
„Wie kommt es nun,“ frägst du, „daß so Viele gerade dieser Leidenschaft verfallen?“ Weil sie gegen diese nicht so gerüstet stehen wie gegen Ausschweifung und Unreinigkeit; denn würde sie ihnen ebenso schrecklich erscheinen, so fielen sie ihr nicht so schnell zum Opfer. So wurden auch jene beklagenswerthen Jungfrauen von der Schwelle des Brautgemaches weggewiesen, weil sie nach Überwindung des stärkeren Gegners dem schwächeren, dem nichtsbedeutenden unterlegen waren. Ausserdem kommt auch Das noch in Betracht: Wer die Begierlichkeit beherrscht, aber sich von der Habsucht überwinden läßt, bei dem ist gemeiniglich auch die Beherrschung der Sinnlichkeit nicht sein eigenes Verdienst, sondern seine Natur bringt es so mit sich, daß ihn diese Leidenschaft nicht allzusehr anficht; denn nicht Alle sind gleichmäßig zur Sinnlichkeit geneigt.
Indem wir nun Dieses wissen und das warnende Beispiel jener Jungfrauen beständig vor Augen haben, so laßt uns dieses arge Ungeheuer fliehen! Denn wenn die Jung- S. 383 frauschaft Nichts half, wenn jene Jungfrauen nach so unendlichen Opfern von Mühe und Schweiß dennoch wegen der Geldliebe verloren gingen, wer wird dann uns erretten, wenn wir in diese Leidenschaft fallen? Darum bitte ich, ihr möget Alles anwenden, um ihr nicht zum Opfer zu fallen, um nicht in ihren Fesseln zu bleiben, um ihre grausamen Bande zu zerreissen. Denn so werden wir zum Himmelreiche gelangen und der unendlichen Güter theilhaftig werden. Mögen diese uns allen zu Theil werden durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater zugleich mit dem heiligen Geiste Ruhm, Macht und Ehre jetzt und immer und zu ewigen Zeiten. Amen.