I.
11. 12. Unser Mund ist erschlossen gegen euch, Korinther, unser Herz ist erweitert. Ihr seid nicht beengt in uns, seid aber beengt in eurem eigenen Innern.
Der Apostel hat von seinen Leiden und Drangsalen gesprochen mit den Worten: „In Geduld, in Zwang, in Nöthen, in Schlägen, in Gefängnissen, in Wanderungen, in Mühsalen, in Nachtwachen;“ er hat gezeigt, daß in diesen Dingen ein großes Gut liege, indem er sprach: „Als betrübt, und immer freudig, als arm, und Viele bereichernd, als Nichts habend, und Alles besitzend;“ er hat die Leiden Waffen (Tugendmittel) genannt in den Worten: „Als (zur Unterweisung) gezüchtigt, und nicht dem Tode überlassen.“ Er hat dargelegt, wie dadurch Gottes Fürsorge und Macht sich offenbare, indem es hieß: „Damit die überschwengliche Macht Gott zukomme und nicht aus uns sei.“ Er hat von seinem leidensvollen Zustande gesprochen, vom „Sterben Jesu“, das er immer mit sich herumtrage, damit — zum deutlichen Beweise für die Auferstehung — auch das „Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleische.“ Ferner, wessen er theil- S. 228 haftig geworden und was ihm für Dinge anvertraut wurden; „für Christus,“ sprach er, „sind wir Gesandte, als ob Gott ermahnte durch uns;“ und wessen Diener er ist, nämlich nicht des Buchstabens, sondern des Geistes, und wie ihm nicht allein sein Beruf, sondern auch die Verfolgungen Anspruch auf Ehre geben; denn „Gott sei Dank,“ hieß es, „der uns immerdar zum Triumphe führt.“ Jetzt nun will er darangehen, die Korinther zu rügen, daß sie ihm nicht allzu sehr zugethan wären. Doch schreitet er nicht sofort zum Werke, sondern gedenkt zuerst noch der Liebe, die er gegen sie kund gegeben, und geht dann erst auf jenen Gegenstand über. Denn mag auch der Tadelnde durch seine Tugenden noch so ehrwürdig sein, so benimmt er dennoch der Rede noch mehr die Bitterkeit, wenn er auch der Liebe Ausdruck gibt, die er gegen die zu Tadelnden hegt. Darum lenkt Paulus, nach Erwähnung seiner Bedrängnisse, Mühen und Kämpfe, die Rede zuerst auf die Liebe, um so zur Rüge zu gelangen. Was sagt er nun, um seiner Liebe Ausdruck zu geben? „Unser Mund ist erschlossen gegen euch, Korinther.“ Und was ist das für ein Beweis der Liebe? Was soll denn überhaupt das Gesagte bedeuten? Wir können es nicht ertragen, will er sagen, euch gegenüber zu schweigen, sondern immer wünschen und verlangen wir, mit euch zu reden und geistig zu verkehren, wie es eben die Liebe mit sich bringt. Denn was beim Leibe das Umfangen, das ist bei der Seele der Austausch der Rede. Ausser Diesem deutet aber Paulus noch auf etwas Anderes hin. Und was wäre Dieses? Er will sagen: Wir reden durchaus freimüthig zu euch, wie es sich zu Geliebten geziemt, ohne Verstellung und Zurückhaltung. Denn da es sich um einen Tadel handelt, den er aussprechen will, so bittet er um Nachsicht, indem gerade dieses freimüthige Tadeln als Beweis seiner Liebe soll betrachtet werden. Und auch die Beifügung des Namens zeigt von großer Liebe, Zuneigung und Wärme; denn bei Denen, die wir lieben, führen wir immerfort die bloßen Namen im Munde. — „Unser S. 229 Herz ist erweitert.“ Gleichwie die Wärme auszudehnen pflegt, so hat auch die Liebe die Eigenschaft, zu erweitern. Warm und glühend ist ja die Tugend. Diese hat auch dem Paulus den Mund geöffnet und das Herz erweitert. Ich liebe nicht bloß mit dem Munde, sagt er, sondern mit dem Munde steht in Einklang das Herz. Darum rede ich mit Freimuth, aus aufrichtigem Munde und voller Seele.
Nichts kann weiter sein als das Herz des Paulus, das die Gläubigen insgesammt so innig liebte, wie man nur den Busenfreund liebt; seine Liebe war nicht getheilt und geschwächt, sondern gehörte jedem Einzelnen in voller Kraft. Und was ist Das zu verwundern, wo es sich um Gläubige handelt, da ja auch bei den Ungläubigen das Herz des Paulus die ganze Welt umschloß? Darum sagt er nicht: Ich liebe euch, sondern weit nachdrücklicher: „Unser Mund ist erschlossen, unser Herz erweitert;“ Alle tragen wir im Herzen, und Alle haben Raum. Denn der Geliebte wandelt mit voller Unumschränktheit im Herzen des Liebenden. Darum sagt Paulus: „Ihr seid nicht beengt in uns, wohl aber beengt in eurem eigenen Innern.“ Und beachte die Schonung, die mit dem Tadel verbunden ist; so will es die ächte Liebe. Er sagt nicht: Ihr liebt uns nicht, sondern: Ihr liebt uns nicht in gleichem Maße; denn er will sie nicht allzu streng behandeln. Und so kann man allenthalben seine glühende Liebe zu den Gläubigen sehen, wenn man aus jedem seiner Briefe die Aussprüche sammelt. So sagt er zu den Römern: „Es verlangt mich, euch zu sehen; oftmals habe ich mir vorgenommen, zu euch zu kommen;“ und wieder, „Ob ich wohl endlich einmal gute Gelegenheit habe, zu euch zu kommen.“1 Und zu den Galatern spricht er:
S. 230 „Meine Kindlein, die ich wiederum mit Schmerzen gebäre.“2 Dann zu den Ephesiern: „Deßhalb beuge ich meine Knie um euretwillen.“3 Und zu den Philippern: „Wer ist mir Hoffnung oder Freude oder Ruhmeskranz? nicht etwa ihr?“4 Und er sagt von ihnen, er trage sie mit sich in seinem Herzen und in seinen Banden. Ferner zu den Kolossern: „Ich will, daß ihr wißt, welche Sorge ich um euch habe, auch um all’ Jene, die mich nicht im Fleische geschaut haben, damit eure Herzen getröstet werden.“5 Und zu den Thessalonikern: „Wie eine Amme ihre Kinder hegt, so sehnen wir uns nach euch und verlangen euch mitzutheilen nicht bloß das Evangelium, sondern selbst unser eignes Leben.“6 Dann zu Timotheus: „Eingedenk deiner Thränen, damit ich der Freude voll werde.“7 Und zu Titus: „Dem geliebten Kinde.“8 Und zu Philemon deßgleichen.