III.
So sollen auch jetzt Die gesinnt sein, welche getadelt werden; sie sollen weinen und klagen, sie sollen nach ihren Lehrern sich sehnen, nach ihnen größeres Verlangen als nach Vätern tragen. Denn den Vätern verdanken wir das Leben, den Lehrern aber das tugendhafte Leben. In solcher Gesinnung soll man die väterlichen Zurechtweisungen hinnehmen, so soll man den Schmerz der Vorsteher gegen Die, welche sündigen, theilen. Denn nicht auf den Lehrern allein beruht das Ganze, sondern ein Theil auch auf euch. Denn sieht der Sünder, daß zwar der Vater ihn tadelt, daß aber die Brüder ihm schmeicheln, so wird er noch gleichgiltiger sich gehen lassen. Vielmehr wenn der Vater tadelt, so zürne auch du mit ihm, mag nun die Sorge für den Bruder dich bewegen, oder weil du das Zürnen des Vaters theilst; nur zeige lebhafte Theilnahme und beklage nicht den Tadel des Bruders, sondern seine Sünde. Wenn aber ich aufbaue und du niedereissest, was haben wir dann beide mehr als vergebliche Mühe? Ja nicht einmal darauf beschränkt sich der Schaden, sondern du ziehst dir auch selbst noch Strafe zu. Denn wer die Heilung einer Wunde hindert, der verdient nicht geringere, ja noch größere Strafe, als wer sie geschlagen hat. Denn es gilt nicht gleich, eine Wunde zu schlagen und die Heilung der geschlagenen zu hindern. Dieses zieht jedenfalls den Tod nach sich, aber Jenes nicht immer.
Dieses rede ich zu euch, damit ihr das Zürnen der Vorsteher theilt, wenn sie aus gerechter Ursache sich entrüsten, damit, wenn ihr Jemand getadelt sehet, ihr noch mehr von ihm euch abwendet als der Lehrer selbst. Euch soll Der, welcher sich verfehlt hat, mehr fürchten als den Vorsteher. Denn fürchtet er bloß den Lehrer, so wird er rasch wieder sündigen; wenn er aber so viele Augen zu scheuen hat, so viele Munde, so wird er sich sorgsamer in Acht nehmen. Denn wie wir einst, wenn wir Das nicht thun, auf’s strengste bestraft werden, so werden wir auch, wenn wir es thun, am Verdienste der Besserung Antheil haben.
S. 250 So wollen wir demnach handeln! Und wer etwa sagt: Du mußt liebevoll sein gegen den Bruder, so ziemt es sich für Christen, der lerne, daß Jener liebevoll ist, welcher zürnt, nicht Jener, der vor der Zeit dem Bruder schmeichelt und ihn gar nicht zum Bewußtsein seiner Verirrung kommen läßt. Denn wer, sage mir, hat denn wahres Mitleid mit dem Manne, den Fieber und Irrwahn umfangen hält, der, welcher ihn auf’s Lager beugt und in Fesseln legt und schädliche Speisen und Getränke ihm entzieht, oder Der, welcher ihn ungemischten Wein hinunter schütten läßt, ihm volle Freiheit gewährt und Alles zu thun gestattet, was der Gesunde thut? Trägt nicht der Eine zur Verschlimmerung der Krankheit bei, während er meint, ein Werk der Nächstenliebe zu thun, der Andere aber zur Heilung? So ist es eben, meine ich, auch hier. Denn die Liebe gebietet, dem Kranken nicht überall willfährig zu sein, nicht allwegs seinen Gelüsten nachzugeben. Niemand liebte den Unzüchtigen in Korinth mehr als Paulus, der doch befahl, ihn dem Satan zu übergeben; Niemand haßte ihn mehr als Jene, die ihm Gunst und Beifall erwiesen; der Ausgang hat es gezeigt. Denn Jene machten ihn aufgeblasen und schürten noch das Feuer; Paulus aber beugte seinen Stolz und ließ nicht eher ab, als bis er ihn wieder völlig gesund gemacht hatte; Jene mehrten noch das vorhandene Böse, aber Paulus riß das schon veraltete mit der Wurzel aus.
So sollen auch wir die Gesetze der Menschenliebe verstehen! Wenn du ein Pferd siehst, das über den steilen Abhang stürzen will, so greifst du nach dem Zügel und reissest es ungestüm zurück und schwingst oftmals die Peitsche; das ist nun wohl eine Züchtigung, aber aus dieser Züchtigung erwächst die Rettung. So mache es auch bei Denen, die sündigen! Binde Den, der sich verfehlt hat, bis er mit Gott sich aussöhnt; laß ihn nicht frei bleiben, damit ihn nicht um so mehr der Zorn Gottes binde! Wenn ich ihn binde, so bindet ihn Gott nicht S. 251 mehr; wenn ich nicht binde, so warten seiner die unzerbrechlichen Bande. „Denn würden wir selbst uns richten, so würden wir nicht gerichtet werden.“1 So halte denn ein solches Verfahren nicht für Grausamkeit und Unmenschlichkeit, sondern für die höchste Milde, für das heilsamste Verfahren, für die liebevollste Sorge.
„Aber sie haben schon lange genug gebüßt,“ sagt man. Wie lange denn? frage ich. Etwa ein Jahr oder zwei und drei? Aber es handelt sich hier nicht um die Länge der Zeit, sondern um die Besserung der Seele. Das mußt du nachweisen, ob sie zerknirscht, ob sie umgewandelt sind; dann ist Alles recht; ist aber Das nicht der Fall, was hilft dann die lange Zeit? Wir fragen ja auch bei einer Wunde nicht, wie oft sie verbunden worden, sondern was der Verband genützt hat. Hat er nun selbst in kurzer Zeit geholfen, so werde er nicht ferner mehr angelegt; hat er aber Nichts geholfen, so soll er selbst nach zehn Jahren noch angelegt werden, und nichts Anderes soll für die Wegnahme bestimmend sein als die Heilung der Wunde. Wenn wir so für uns und für Andere Sorge tragen, wenn wir nicht auf Ehre oder Schande vor den Menschen sehen, sondern an Qual und Schmach in der anderen Welt denken und vor Allem an die Beleidigung Gottes, und wenn wir mit Ernst und Nachdruck die Heilmittel der Buße auf unsere Wunden legen, so werden wir rasch zur vollen Gesundheit gelangen und einst der künftigen Güter theilhaftig werden. Mögen diese uns allen zu Theil werden durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater zugleich mit dem heiligen Geiste Ruhm, Macht und Ehre sei jetzt und immer und für ewige Zeiten. Amen. S. 252
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I. Kor. 11, 31. ↩