III.
Denn an Nichts erkennt man mehr den ächten Vorgesetzten als an seiner Liebe zu den Untergebenen. So macht ja auch zum Vater nicht das Zeugen allein, es gehört dazu nach dem Zeugen auch die Liebe. Wenn nun aber schon auf natürlichem Gebiete die Liebe nicht zu entbehren ist, um wie viel weniger dann im Bereich der Gnade? Die Liebe war es, durch welche die Alten alle sich hervorgethan haben. Alle wenigstens, die unter den Hebräern sind berühmt geworden, haben durch ihre Liebe sich ausgezeichnet. Wie groß erscheint nicht Samuel, wenn er spricht: „Mir aber sei es ferne, wider Gott zu sündigen, indem ich abließe, für euch zu beten.“1 Und so David, so Abraham, so Elias, so die Gerechten alle im alten wie im neuen Bunde. So verließ auch Moses aus Liebe zu den Untergebenen Reichthum und unermeßliche Schätze und wollte lieber gedrückt sein mit dem Volke Gottes; und schon vor seiner Berufung war er durch seine Thaten der Führer des Volkes. Darum war es auch recht unverständig von jenem Hebräer, wenn er zu ihm sprach: „Wer hat dich bestellt zum Herrscher und Richter über uns?“2 Was sagst du? Die Werke siehst du und machst Umstände wegen der Benennung? Es ist gerade so, als wenn man einen Arzt, der kundig das Messer führt und dem leidenden Gliede des Leibes zu Hilfe kommt, fragen würde: Wer hat dich zum Arzt bestellt und dir zu schneiden befohlen? Die Kunst, mein Bester, und deine Krankheit. So hat auch den Moses seine Einsicht zum Führer gemacht.
Denn eine Kunst ist das Herrschen, nicht bloß eine Würde, ja sie ist von allen Künsten die höchste. Und S. 261 wenn schon die weltliche Herrschaft eine Kunst und Wissenschaft ist, der keine andere gleicht, um wie viel mehr dann die geistliche! Diese steht wieder so hoch über der weltlichen, als die weltliche über allen übrigen Künsten, ja noch weit höher. Und wenn es beliebt, so wollen wir von diesem Gegenstande eingehender handeln.
Wir unterscheiden hauptsächlich drei Künste, den Landbau, die Webekunst und die Baukunst; sie sind alle drei sehr nothwendig, und auf ihnen beruht zunächst unser Leben. Die übrigen Berufsarten sind diesen untergeordnet, so wenn wir Schmide, Zimmerleute oder Hirten betrachten. Von diesen drei Künsten selbst aber ist wieder am unentbehrlichsten der Landbau; darum hat ihn Gott auch zuerst eingeführt, nachdem er den Menschen geschaffen hatte. Denn ohne Schuhe und Kleidung könnte man leben, aber ohne Landbau wäre es unmöglich.
So sollen, wie man berichtet, die Hamarobier (Wagenbewohner), Nomadenstämme bei den Scythen, so die Gymnosophisten bei den Indiern leben. Diese kümmern sich weder um Baukunst noch um Webekunst noch um Verfertigung von Schuhen, aber den Landbau können sie nicht entbehren. Da müßt ihr euch schämen, die ihr so überflüssige Künste, wie die der Köche und Feinbäcker, die ihr gestickte Gewänder und tausenderlei Anderes zum Leben braucht; da müßt ihr euch schämen mit euren unnützen Künsten, die ihr in’s Leben habt eingeführt; da müßt ihr Gläubigen, sage ich, euch schämen vor jenen Barbaren, die nach solcher Kunst kein Bedürfniß haben. Doch will ich Niemand zwingen noch allgemein verpflichten, so zu leben; aber genügen soll uns, um was Jakob gebeten hat. Und um was hat Dieser gebeten? „Wenn der Herr mir Brod gibt zum Essen und ein Kleid zum Decken.“3 So be- S. 262 fiehlt es auch Paulus, wenn er sagt: „Haben wir Nahrung und Kleidung, so laßt uns damit zufrieden sein!“4 —
An erster Stelle kommt also der Landbau, an zweiter die Webekunst und nach ihr an dritter die Baukunst; ganz zuletzt aber kommen die Schuhe. Sehen wir ja auch bei uns unter Dienstboten und Landleuten Viele, die ohne Schuhe sich behelfen. Dieses sind demnach die drei nützlichen und nothwendigen Künste. Wohlan nun, vergleichen wir sie mit der Kunst des Herrschens! Denn darum habe ich von allen die drei wichtigsten genannt, damit, wenn sie vorzüglicher als diese sich erweist, ihr dann der Sieg über die übrigen unbestreitbar sei. Woher nehmen wir nun die Beweise, daß das Herrschen die unentbehrlichste Kunst ist? Einfach daher, weil ohne sie die übrigen Nichts nützen. Und wenn es beliebt, so lassen wir die beiden anderen beiseite und ziehen nur die höchste und wichtigste von allen, den Landbau, in Betracht.
Was hätten wir denn, frage ich, von der fleissigen Arbeit so vieler Landleute, wenn Alles gegen einander in Waffen stehen und sich die Habe gegenseitig entreissen würde? So aber hält die Furcht vor dem Herrscher die Leute in Schranken und schützt Jedem die Frucht seiner Arbeit; nimm diese Herrschaft hinweg, und all jene Mühe ist umsonst!
Betrachten wir aber die Sache genauer, so finden wir noch eine andere Art von Herrschaft, von der die eben genannte ihren Ursprung hat und der sie ihren Halt verdankt. Und welches ist diese? Es ist jene, vermöge welcher sich Jeder selbst bezwingen und beherrschen muß, indem er die niedrigen Leidenschaften im Zaume hält S. 263 und alle Keime der Tugend mit aller Sorgfalt nährt und pflegt. Es gibt nämlich verschiedene Arten der Herrschaft; die eine ist diese, nach welcher Menschen über Völker und Städte herrschen und das staatliche Leben ordnen; diese hat Paulus im Auge, wenn er sagt: „Jegliche Seele unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt, denn es gibt keine Gewalt ausser von Gott!“5 Und er hebt ihren Nutzen hervor mit den Worten: „Der Herrscher ist Gottes Diener zum Guten;“ und wiederum: „Gottes Diener ist er, zürnender Rächer wider Den, der das Böse thut.“ Die andere Art ist die, nach welcher jeder Verständige sich selbst beherrscht. Auch auf diese weist der Apostel, wenn er sagt. „Willst du aber die Gewalt nicht fürchten, so thue das Gute,“ womit er die Herrschaft über sich selbst meint.