3.
Wie viele Skorpione, wie viele Vipern gibt es jetzt in dieser Wüste; wie viele Schlangen, wie viel Natterngezücht, durch das wir jetzt hindurchziehen müssen! Doch fürchten wir uns nicht; denn diesen Auszug leitet, nicht Moses, sondern Christus. Was müssen wir nun tun, damit wir nicht das gleiche Schicksal erleiden? Nicht dasselbe treiben, nicht ebenso gesinnt sein wie sie. Jene murrten, jene waren undankbar; das soll also bei uns nicht vorkommen. Warum sind jene samt und sonders dem Tode verfallen? Sie legten Geringschätzung gegen das gelobte Land an den Tag. - Wie sollten sie S. 476 dasselbe gering geschätzt haben? Waren sie doch voll Bewunderung dafür! - Dadurch, daß sie zu weichlich waren, Mühen und Beschwerden für dasselbe auf sich zu nehmen. Laßt uns also den Himmel nicht geringschätzen, indem wir es ebenso machen! Auch zu uns ist eine Frucht aus dem Himmel gebracht worden, nicht eine in Eimern getragene Traube, sondern das Unterpfand des Hl. Geistes, der Wandel im Himmel, den uns Paulus gelehrt hat und die ganze Schar der bewunderungswürdigen Winzer. Nicht Kaleb, der Sohn des Jephone, noch Jesus, der Sohn des Nave, brachte uns diese Früchte, sondern Jesus, der Sohn des Vaters der Erbarmungen, der Sohn des wahrhaftigen Gottes, brachte und alle Tugend, alle Früchte derselben herab, nämlich die himmlischen Lobgesänge. Denn was die Cherubim dort oben singen, das hieß er auch uns singen: „Heilig, heilig, heilig!“1 . Er brachte uns die Vorzüge der Engel: Die Engel heiraten nicht und werden nicht verheiratet2 . Diesen herrlichen Vorzug verpflanzte er auch auf die Erde. Die Engel sind frei von Habgier und jedem ungeordnetem Verlangen; auch dazu legte er die Fähigkeit in unser Herz. Jene sterben nicht; diese Gnade verlieh er auch uns; denn der Tod ist kein wirklicher Tod mehr, sondern ein Schlaf. Höre nur seinen Ausspruch: „Unser Freund Lazarus schläft“3 . -
Hast du die Früchte des himmlischen Jerusalem gesehen? Und was noch wunderbarer ist: Der Krieg ist noch gar nicht entschieden, sondern schon vor dem Lande der Verheißung hat er uns all das geschenkt. Die Juden mußten sich, auch nachdem sie in das Land der Verheißung gekommen waren, noch anstrengen. Oder besser gesagt, sie brauchten sich nicht anzustrengen; denn wenn sie Gott hätten gehorchen wollen, so würden sie ohne Waffen und Kampf alle Städte erobert haben. Die Bezwingung Jerichos wenigstens hatte mehr das Aussehen eines Reigentanzes als eines Krieges. Wir aber brauchen, nachdem S. 477 wir in das Land der Verheißung, d. h. in den Himmel, eingegangen sind, nicht mehr Krieg führen, sondern nur, solange wir in der Wüste, d. h. in diesem gegenwärtigen Leben, uns aufhalten. „Denn wer eingegangen ist in seine Ruhe, der ruht aus von seinen Werken, gleichwie Gott von den seinigen“4 . „Laßt uns also nicht müde werden im Gutestun; denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten“5 . Siehe, wie er jene geführt hat, so [führt] er auch uns. Dort beim Manna in der Wüste, erzählt die Schrift, hatte „der, welcher mehr gesammelt, nicht mehr, und der, welcher weniger geholt, nicht weniger“6 . Auch wir haben das Gebot, nicht Schätze auf Erden zu sammeln. Sammeln wir dennoch Schätze, so verdirbt sie nicht mehr bloß der sichtbare Wurm, wie es beim Manna geschah7 , sondern der Wurm, der nicht stirbt, wird sie empfangen; auch wird nicht die irdische Sonne sie schmelzen wie bei dem Manna, sondern die Sonne der Gerechtigkeit. Laßt uns daher alles aufbieten, damit wir diesem Wurme keine Nahrung verschaffen! - Wer dort mehr sammelt, heißt es, hatte darum doch nicht mehr.
Das trifft auch bei uns alle Tage zu; denn wir alle haben denselben einen Magen zu sättigen; was darüber hinausgeht, verursacht nur Sorgen. Seine Bereitwilligkeit, auch nachher noch zu geben, hatte der Herr mit den Worten: „Jedem Tag genügt seine Plage“8 bereits im Alten Bunde begreiflich zu machen versucht; allein sie begriffen es trotzdem nicht. Wir aber wollen nicht unersättlich, nicht undankbar sein, nicht glänzende Wohnungen erstreben; denn wir sind Wanderer, nicht Seßhafte. Wer also weiß, daß das gegenwärtige Leben einer Reise, einem Feldzuge, oder S. 478 um mich eines militärischen Ausdruckes zu bedienen, einem durch Wall und Graben verschanzten Lager gleicht, der wird nicht nach glänzenden Wohnungen trachten. Sage mir, wer wird denn, selbst wenn er noch so reich wäre, in einem solchen Lager prächtige Häuser bauen wollen? Kein einziger; würde er sich doch nur lächerlich machen, würde er doch nur für die Feinde bauen, ja dieselben geradezu heranlocken. Wenn wir daher vernünftig sind, so werden auch wir das bleiben lassen. Das gegenwärtige Leben unterscheidet sich in nichts von einem Feldzug und Kriegslager. Darum, ich bitte euch, laßt uns unter keinen Umständen Schätze für diese Welt sammeln! Denn wenn der Dieb kommt, werden wir uns schnell davon trennen müssen. „Wachet“, spricht der Herr, „weil ihr nicht wißt, zu welcher Stunde der Dieb kommt“9 ; er meint damit den Tod. Bevor also dieser kommt, laßt uns alles hinübersenden in unsere wahre Heimat! Hier also wollen wir wohlumgürtet bleiben, damit wir imstande seien, die Feinde zu besiegen; deren Besiegung uns zuteil werden möge durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater gleichwie dem Heiligen Geiste Herrlichkeit, Macht und Ehre sei, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit! Amen. +++++++
