3.
Nichts ist einer christlichen Seele so fremd als der Hochmut. Hochmut, sage ich, nicht Freimütigkeit oder Starkmut; denn diese Eigenschaften sind ihr eigen. Ein anderes nämlich ist dieses, und ein anderes jenes. Und so ist auch ein anderes die Demut, ein anderes aber knechtischer Sinn und Schmeichelei und Wohldienerei. Und wenn ihr es wünscht, so will ich für all das auch Beispiele anführen. Scheint doch (mit diesen Tugenden) ihr Widerspiel unzertrennlich verwachsen zu sein, wie mit dem Getreide die Trespe, wie mit der Rose die Dornen: Indes: Kinder mögen sich vielleicht dadurch täuschen lassen, Männer im wahren Sinne des Wortes aber, die im geistlichen Ackerbau Erfahrung besitzen, wissen das wirklich Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Wohlan denn, so wollen wir euch die Beispiele hiefür aus der Hl. Schrift vor Augen führen!
Was ist denn Schmeichelei und knechtischer Sinn und Wohldienerei? Siba schmeichelte dem David zur Unzeit und verleumdete seinen eigenen Herrn1; mehr noch schmeichelte Achitophel dem Absalom2. David hingegen war nicht so, sondern wirklich demütigen Sin- S. 79 nes; denn schmeichlerisch sind nur die Hinterhältigen... Wie schmeichlerisch wieder sind die Magier3, z. B. wenn sie sprechen: „König, mögest du ewig leben!“ — Auch von Paulus können wir in der Apostelgeschichte vieles finden, was für unsern Gegenstand paßt, wenn er zu den Juden redet, nicht schmeichlerisch, sondern demütig — denn er weiß auch eine freimütige Sprache zu führen —; so wenn er sagt: „Männer, Brüder! Ohne daß ich etwas gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche getan habe, bin ich gebunden aus Jerusalem ausgeliefert worden4.“ Daß dies nämlich die Sprache der Demut war, magst du daraus ersehen, wie er sie gleich darauf tadelt mit den Worten: „Mit Recht hat der Hl. Geist gesagt: Hörend werdet ihr hören, und doch nicht verstehen; und sehend werdet ihr sehen, und doch nicht einsehen5.“ Siehst du hier die Unerschrockenheit? — Betrachte auch die Unerschrockenheit Johannes des Täufers, welche er Herodes gegenüber an den Tag legte, indem er sprach: „Es ist dir nicht erlaubt, das Weib deines Bruders Philippus zu haben6.“ Das ist Freimut, das ist Unerschrockenheit. Nicht so das Benehmen des Semei, als er sprach: „Geh hinaus, du Mann des Blutes7!“ Allerdings hat auch er Freimütigkeit gezeigt; aber das ist nicht Mannesmut, sondern Frechheit, Verhöhnung und ungezogene Beschimpfung. So hat auch Jezabel den Jehu verhöhnt, indem sie ihn „den Mörder seines Herrn8“ nannte; allein das war Frechheit, nicht Freimütigkeit. Auch Elias erhob bitteren Vorwurf (gegen Achab); aber das war Freimut und Mannhaftigkeit; „Nicht ich verwirre das Volk, sondern du und das Haus deines Vaters9.“ Wiederum zeigte Elias Freimütigkeit gegenüber dem gesamten S. 80 Volke, indem er sprach: „Wie lange hinkt ihr denn noch auf beiden Seiten10?“ So an die offene Wunde rühren, das ist Freimut und Mannhaftigkeit; so machten es auch die Propheten. Jenes dagegen war nur ein Beweis der Frechheit. — Willst du die Sprache der Demut und der edlen Offenheit11 kennen lernen? Höre, was Paulus sagt: „Mir aber gilt es für das Geringste, von euch gerichtet zu werden oder von einem menschlichen Gerichtstage; aber ich richte mich auch selber nicht. Denn ich bin mir zwar nichts bewußt, aber darum noch nicht gerechtfertigt12.“ Das verrät eine dem Christen ziemende Denkungsart. Und wiederum: „Untersteht sich jemand unter euch, der einen Rechtsstreit gegen einen andern hat, denselben bei den Ungerechten und nicht bei den Heiligen entscheiden zu lassen13?“ — Willst du die Schmeichelei der unvernünftigen Juden sehen? Höre, wie sie sprechen: „Wir haben keinen König als den Kaiser14!“ — Willst du die Demut sehen? Höre abermals einen Ausspruch des hl. Paulus: „Denn nicht uns selbst predigen wir, sondern Jesum Christum als den Herrn, uns selber aber als eure Diener um Jesu willen15.“ — Willst du die Schmeichelei und Frechheit kennen lernen? Die Frechheit des Nabal, die Schmeichelei der Ziphäer? wie jener den David verhöhnte16, diese aber die Absicht hatten, ihn zu verraten17 ? — Willst du die von Schmeichelei freie Mäßigung Davids sehen? wie er den Saul in seine Gewalt bekam und ihn verschonte18? — Willst du die Schmeichelei der Mörder Isbosets19 kennen lernen, welche David dafür töten ließ.20? — Mit einem Worte und um das Ganze kurz zusammenzufassen; Frechheit ist es, wenn man seinem S. 81 Zorne durch Beschimpfung Luft macht ohne jede gerechte Veranlassung, sei es um sich selbst zu rächen, sei es um sich sonstwie ungerechterweisc zu erdreisten; Freimütigkeit und Unerschrockenheit dagegen, wenn man Gefahren, ja selbst dem Tode Trotz bietet und weder auf Freundschaften noch auf Feindschaften Rücksicht nimmt — für die Sache Gottes. Wiederum: Schmeichelei und gemeiner Sinn ist es, wenn man andern huldigt ohne jeden entsprechenden Grund, sondern um irgendeinen materiellen Vorteil zu erhaschen; Demut dagegen, wenn man für die Sache Gottes dies tut und, um diesen erhabenen und großartigen Zweck zu erreichen, von seiner eigenen Höhe herabsteigt. — Hat sich uns das Verständnis hierfür erschlossen, dann Heil uns und Segen, wenn wir darnach handeln. Denn mit dem bloßen Wissen ist es nicht getan. „Denn nicht die Hörer des Gesetzes,“ steht geschrieben, „sondern die Vollbringer des Gesetzes werden gerechtfertigt werden21.“ Ja noch mehr: das Wissen gereicht uns zur Verdammnis, wenn es nicht durch gute Werke betätigt wird. Um also der Verdammnis zu entgehen, laßt uns (die erkannte Wahrheit) eifrig üben, damit wir der verheißenen Güter teilhaftig werden mögen in unserm Herrn Jesus Christus; denn sein ist die Ehre in alle Ewigkeit. Amen.
-
Vgl. 2 Kön. 17, 1 ff. ↩
-
Vgl. ebd. 15—17. ↩
-
Der Satz: Πάλιν οἱ μάγοι πῶς εἰσι κόλακες gehört dem ganzen Zusammenhange nach vor οἷον, ὡς κ. τ. λ. Die Stelle hat durch die Überlieferung Schaden gelitten. ↩
-
Apg. 28, 17. ↩
-
Ebd. 28, 25. 26. (Is. 6, 9. 10.) ↩
-
Mark. 6, 18. ↩
-
2 Kön. 16, 7. ↩
-
4 Kön. 9, 31. ↩
-
3 Kön. 18, 18. ↩
-
3 Kön. 18, 21. ↩
-
Der Zusammenhang empfiehlt die Lesung οὐ κολακείας für κολακείας. ↩
-
1 Kor. 4, 3. 4. ↩
-
Ebd. 6, 1. ↩
-
Joh. 19, 15. ↩
-
2 Kor. 4, 5. ↩
-
1 Kön. 25, 10 f. ↩
-
Ebd. 23, 19 ff. ↩
-
Ebd. 24, 4 ff. ↩
-
Der Text hat Μεμφιβοσθὲ, wohl ein Gedächtsnisfehler des Heiligen. ↩
-
2 Kön. 4, 8ff. ↩
-
Röm. 2, 13. ↩