3.
Sage mir, wenn jemand sich mit dem Besitze seines Eigentums begnügte, weil es ihm an der Möglichkeit gebricht, andere zu übervorteilen, werden wir einen solchen wegen seiner Gerechtigkeit loben? Gewiß nicht. Warum? Weil durch die Unmöglichkeit das Verdienst des freien Willens wegfällt. — Sage mir, wenn einer Privatmann bliebe, weil es nicht in seiner Macht liegt, Herrschaft und Königtum an sich zu reißen, S. 88 werden wir einen solchen wegen seiner Zurückgezogenheit von den Staatsgeschäften loben? Gewiß nicht. — Also auch hier nicht. Denn das Lob, o ihr unwissendsten aller Menschen, liegt nicht im Abstehen von diesen Dingen, sondern in der Ausübung des Guten, Durch jenes nämlich bleibt man zwar frei von Tadel, gewinnt aber noch keinen Anspruch auf Lob; dieses1 aber ist würdiges Lob für ihn2. Siehe, in dieser Weise spendet auch Christus Lob, wenn er spricht: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet in Besitz das Reich, welches euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an. Denn ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist; ich war durstig, und ihr habt mich getränkt3.“ Er sagt nicht: weil ihr niemanden übervorteilt habt, oder; weil ihr nicht geraubt habt, denn das wäre zu wenig, sondern: weil ihr mich hungrig gesehen und gespeist habt. — Und wer möchte irgendwen, es sei Freund oder Feind, in solcher Weise loben? Nicht einmal den hl. Paulus, — doch was sage ich, den hl. Paulus? — nicht einmal den erstbesten Menschen würde er so loben wollen, wie du Christus lobst, daß er eine ihm nicht zukommende Würde sich nicht angemaßt habe. Wer ob solcher Dinge Bewunderung zollt, stellt (dem Betreffenden) ein schlechtes Zeugnis aus. Wieso? Weil nur für die schlechten Menschen darin ein Lob liegt, wie z. B. wenn man von einem Diebe sagt, er stehle nicht mehr; nicht aber auch für die guten. Daß er eine ihm nicht gebührende Würde und Ehre sich nicht gewaltsam anmaßte, dafür sei er des Lobes wert? Wie unvernünftig wäre ein solches Lob! — Schenket mir (weiter) eure Aufmerksamkeit, ich bitte euch; denn der Gegenstand läßt sich nicht kurz abmachen. — Noch ein Umstand: Wer wird je mit solchen Motiven zur Demut anleiten? Müssen doch die Beispiele viel großartiger sein als die Sache, zu welcher wir auffordern; denn niemand wird sich durch Beispiele bestimmen lassen, die völlig ferne liegen. So stellt Christus für die Vorschrift, den Feinden Gutes zu tun, ein großes Beispiel auf, das des S. 89 himmlischen Vaters, „der seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute, und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte4.“ So weist er für die Vorschrift, Leiden und Widerwärtigkeiten geduldig zu ertragen, auf sein eigenes Beispiel hin: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen5“, und wiederum: „Wenn ich, euer Herr und Meister, dieses tue, um wieviel mehr denn ihr6?“ Siehst du, wie die Beispiele nicht nachstehen? Sie dürfen auch gar nicht nachstehen; denn auch wir pflegen also zu tun. Anders aber in unserm Falle; hier kommt das (angeführte) Beispiel nicht entfernt (der Sache) nahe. Wieso? Weil Christus, wenn er Knecht ist, eine untergeordnete Stellung einnimmt und der Botmäßigkeit eines Höheren untersteht. Das aber ist nicht Demut. Zu diesem Behufe mußte der Apostel den gegenteiligen Weg einschlagen und einen Höheren zeigen, der dem Niedrigeren gehorcht. Weil er das aber in Gott nicht fand, einen Höheren und einen Niedrigeren nämlich, darum sprach er von Gleichheit. Wäre der Sohn geringer, so würde sein Beispiel nicht geeignet sein, zur Demut anzuleiten. Warum? Weil die Demut nicht darin besteht, daß der Geringere sich gegen den Höheren nicht auflehnt, daß er sich die Herrschaft nicht mit Gewalt anmaßt, daß er gehorsam ist bis zum Tode. — Übrigens beachte auch, was er nach Anführung dieses Beispieles spricht: „In Demut einer den andern höher achtend als sich selbst.“ Er sagt: „achtend (ἡνούμενοι)“. Weil ihr nämlich dem Wesen und der von Gott empfangenen Würde nach eins seid, so muß dies folgerichtig Sache des subjektiven Erachtens (τῆς ὑπολήψεως) sein. Spräche er aber von (wirklich) Höheren und Niedrigeren, so würde er nicht sagen: „achtend“, sondern: „Ehret diejenigen, welche höher stehen als ihr“; wie er auch an einer andern Stelle sagt: „Gehorchet euren Vorstehern und seid ihnen untertan7!“ Hier liegt die Unterordnung in der S. 90 Natur der Sache; dort muß sie aus unserm eigenen Urteil erfließen, — „In Demut einer den andern höher achtend als sich selbst“, heißt es, gleichwie auch Christus getan hat. — Damit wären die Behauptungen der Häretiker widerlegt; es erübrigt nun noch, daß wir unsere Lehre vortragen. Zuvor jedoch will ich das gegen jene Gesagte kurz rekapitulieren. Wenn der Apostel zur Demut auffordern wollte, so konnte er als Beispiel hierfür nicht den Gehorsam des Geringeren gegen den Höheren anführen. Ja, wenn er Dienstboten zum Gehorsam gegen die Herrschaft hätte auffordern wollen, gut; wenn aber Freie zum Gehorsam gegen Freie, was sollte da die Unterwürfigkeit des Knechtes gegen den Herrn? Was die Unterordnung des Geringeren unter den Höheren? Sagte er denn: die Geringeren sollen den Höheren gehorchen? Nein, sondern: Ihr, die ihr einander gleichgestellt seid, gehorchet einander, „einer den andern höher achtend als sich selbst“. Warum hat er nicht auch, wenn schon, das Verhältnis der Frau als Beispiel angeführt und gesagt: „Gleichwie die Frau dem Manne gehorcht, so gehorchet auch ihr einander? Wenn er aber dieses Verhältnis, in welchem die Ebenbürtigkeit und Freiheit herrscht, nicht als Beispiel anführte, weil dabei immerhin eine gewisse Unterwürfigkeit vorhanden ist: um wieviel weniger hätte er das Verhältnis eines Knechtes als Beispiel hinstellen können? — Ich sagte vorhin auch, daß kein Mensch deshalb Lob spendet, weil einer sich des Bösen enthält, ja daß er dessen überhaupt nicht erwähnt; auch wird kein Mensch, wenn er jemanden wegen seiner Keuschheit loben will, ihm nachrühmen, daß er keinen Ehebruch begangen, sondern vielmehr, daß er sogar der eigenen Frau sich enthalten habe. Nie und nirgends rechnen wir die Unterlassung des Bösen als Sünde an; denn das wäre lächerlich. — Ich erörterte ferner: So gut der Ausdruck „Knechtsgestalt“ im wahren und eigentlichen Sinne gefaßt werde, ohne jede Schmälerung, ebensogut müsse der Ausdruck „Gottes Gestalt“ nach seinem vollen Umfange, ohne jede Schmälerung, verstanden werdben. Warum heißt es nicht: da er in Gottes Gestalt geworden war (γενόμενος), sondern: „da er in S. 91 Gottes Gestalt war (ὑπάρχωον)“? Dies ist gleichbedeutend mit jenem Ausdruck: „Ich bin, der ich bin8.“ Die Gestalt, insoweit sie Gestalt ist, bezeichnet das Unveränderliche. Es ist unmöglich, ein anderes Wesen und eine andere Gestalt zu haben; so hat z. B. kein Mensch die Gestalt eines Engels, kein vernunftloses Wesen die Gestalt eines Menschen. Wie sollte es beim Sohne (möglich sein)?