1.
V. 12: „Demnach, meine Geliebtesten, wie ihr jederzeit gehorsam gewesen seid, so wirket, nicht als geschähe es nur in meiner Anwesenheit, sondern auch jetzt um so mehr in meiner Abwesenheit, mit Furcht und Zittern euer Heil!“.
V. 13: „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen.“
V. 14: „Tuet alles ohne Murren und Bedenken.“
S. 120 V. 15: „damit ihr untadelhaft und lauter seid, unsträfliche Kinder Gottes inmitten eines verkehrten und verdorbenen Geschlechtes, unter denen ihr leuchtet wie Lichter in der Welt,“
V. 16: „indem ihr das Wort des Lebens festhaltet, mir zum Ruhme für den Tag Christi.“
Die Ermahnungen müssen von anerkennenden Worten begleitet sein. Dann nämlich werden sie auch gut aufgenommen, wenn wir die zu Ermahnenden auffordern, mit ihrer eigenen Tugend zu wetteifern. So machte es hier auch Paulus, Und schau, wie sinnig! „Demnach, meine Geliebtesten“, spricht er. Er befiehlt nicht einfach: Gehorchet, sondern schickt ein Lob voraus und sagt: „wie ihr jederzeit gehorsam gewesen seid“. Das heißt soviel als: Ich verlange nicht, daß ihr andere nachahmen sollt, sondern euch selber. — „Nicht als geschähe es nur in meiner Anwesenheit, sondern um so mehr in meiner Abwesenheit.“ Weshalb „um so mehr in meiner Abwesenheit“? Damals konnte es möglicherweise scheinen, als tätet ihr alles nur aus Achtung und Ehrfurcht gegen mich; jetzt aber nicht mehr. Wenn es sich nun zeigt, daß jetzt euer Eifer sich noch steigert, so ist damit bewiesen, daß ihr es auch damals nicht meinet-, sondern Gottes wegen getan habt. — Was willst du? Sprich! — Nicht daß ihr auf mich höret, sondern daß ihr „mit Furcht und Zittern euer Heil wirket“. Denn wer ohne Furcht dahinlebt, kann unmöglich etwas Tüchtiges und Ausgezeichnetes leisten. — Er sagt nicht bloß „mit Furcht“, sondern (setzt hinzu): „und Zittern“, was einen höheren Grad von Furcht bezeichnet. Diese Furcht hatte Paulus; deswegen sprach er auch: „Ich fürchte, daß ich nicht etwa, nachdem ich andern gepredigt habe, selbst verworfen werde1.“ Wenn man nämlich schon im gewöhnlichen Leben nichts Ordentliches zustande bringen kann ohne Furcht, um wieviel weniger dann in geistlichen Dingen! Denn sage mir, wer hat lesen und schreiben gelernt ohne Furcht? Wer hat es zur Kunst- S. 121 fertigkeit gebracht ohne Furcht? War aber schon da, wo nicht der Teufel nachstellt, sondern nur die Trägheit im Wege steht, die Furcht für uns so notwendig, um bloß die natürliche Trägheit zu überwinden: wie sollte es möglich sein, da, wo es einen so gewaltigen Kampf kostet, wo so viele Hindernisse sich entgegentürmen, ohne Furcht jemals zum Heile zu gelangen? — Wie aber entsteht wohl diese Furcht in uns? Wenn wir bedenken, daß Gott überall gegenwärtig ist, alles hört, alles sieht, nicht nur unsere Werke und Worte, sondern auch alles, was im Herzen und in der Tiefe des Gedankens verborgen ist; denn „er sichtet die Gedanken und Absichten des Herzens2“. Wenn wir von dieser Überzeugung durchdrungen sind, dann werden wir nichts Böses tun, nichts reden, nichts denken. Sage mir: Wenn du beständig in der Nähe des Fürsten stündest, würdest du da nicht mit Furcht (vor ihm) dastehen? Wie kannst du, während du vor Gott stehst, lachen und dich gehen lassen (ἀναπίπτεις), statt von Ehrfurcht und Schauer erfüllt zu sein? „Verachte ja nicht seine Geduld; denn er ist langmütig, um dich zur Buße zu leiten3.“ Wenn du issest, denke daran, daß Gott zugegen ist — denn er ist wirklich zugegen —, wenn du dich zum Schlafen anschickst, wenn du dich erzürnen, wenn du rauben oder schwelgen oder was immer tun willst; so wirst du nie ins Lachen geraten, nie von Zorn entflammt werden. Im Falle du diesen Gedanken beständig festhältst, wirst du beständig in Furcht und Zittern sein, als einer, der in der Nähe des Königs steht. Der Baukünstler, so gewandt, so erfahren in seiner Kunst er auch sein mag, steht dennoch mit Furcht und Zittern da, aus Besorgnis, er möchte von dem Bau herabstürzen. Auch du hast den Glauben angenommen, hast viel Gutes getan, bist hoch hinaufgestiegen: darum sieh dich wohl vor, stehe mit Furcht, halte die Augen offen, daß du von da nicht herabstürzest! Denn zahlreich sind die Geister der Bosheit, die darauf ausgehen, dich in die Tiefe zu reißen. Es steht geschrieben: „Dienet dem Herrn in Furcht und S. 122 frohlocket ihm mit Zittern4!“ — Und wie ist Frohlocken mit Zittern möglich? — Nun, das allein ist echtes Frohlocken. Denn nur wenn wir etwas Gutes getan haben, und zwar etwas Solches, wie es sich von denen erwarten läßt, die bei ihrem Tun von Furcht und Zittern erfüllt sind, — nur dann empfinden wir eine reine Freude. — „Wirket mit Furcht und Zittern euer Heil!“ Er bediente sich nicht des einfachen ἐργάζεσθε, sondern des stärkeren κατεργάζεσθε das heißt: Wirket mit großem Eifer, mit großem Fleiße! — Da er aber gesagt hatte „mit Furcht und Zittern“, so beachte, wie er ihre Angst beschwichtigt! Denn was schreibt er? „Gott ist es, der in euch wirkt.“ Fürchte dich nicht, weil ich gesagt „mit Furcht und Zittern“! Ich habe es nicht deshalb gesagt, daß du verzweifeln, daß du die Tugend für etwas Unerreichbares halten sollest, sondern damit du achtsam seiest, damit du nicht in Zerstreuung dahinlebest. Ist dies der Fall, dann wird Gott alles wirken; du darfst getrost sein. „Denn Gott ist es, der in euch wirkt.“ Wenn er also selbst (in uns) wirkt, so müssen wir unsern freien Willen beständig in enger, unauflöslicher Verbindung mit ihm erhalten. — [„Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirkt.“] Wenn er selbst in uns das Wollen bewirkt, wie kannst du eine Forderung an uns stellen? Denn wofern er selbst sogar das Wollen bewirkt, dann hat es keinen Sinn, wenn du sagst: „Ihr seid gehorsam gewesen“ — wir können ja dann gar nicht gehorchen —; dann hat es keinen Sinn, wenn du befiehlst: „mit Furcht und Zittern“. Das Ganze ist ja Gottes Werk. — Nicht deshalb habe ich gesagt: „Denn er selber ist es, der sowohl das Wollen als das Vollbringen wirkt“, sondern um eure Ängstlichkeit zu zerstreuen. Nur wenn du willst, dann wird er das Wollen wirken. Fürchte dich nicht, du wirst keine Mühe haben; er selbst gibt uns den Entschluß und die Ausführung desselben. Denn sobald wir wollen, wird er unser Wollen immer mehr stärken. Ich will z. B. etwas Gutes tun: er hat das Gute selbst bewirkt; er hat durch dasselbe auch das Wollen bewirkt. — Oder der Apostel spricht dies S. 123 aus tiefer Frömmigkeit heraus, wie wenn er unsere guten Werke Geschenke der göttlichen Gnade (χαρίσματα) nennt. —