4.
Siehe, wie er auch Gottes Segen wünscht, geradeso wie es die Armen machen. Wenn aber Paulus den Gebern Gottes Segen wünscht, so dürfen noch viel weniger wir uns schämen, dies für empfangene Wohltaten zu tun. Empfangen wir denn nicht, als hätten wir selbst (die Gaben) nötig, freuen wir uns nicht unsertwegen, sondern der Geber selbst wegen! So werden auch wir, wiewohl wir nur die Empfänger sind, Lohn davon ernten, wenn wir uns ihretwegen freuen; so werden wir nicht ungehalten sein, wenn sie nichts geben, sondern vielmehr ihretwegen uns betrüben; so werden wir sie noch bereitwilliger machen, wenn wir sie lehren, daß wir dies nicht in unserem eigenen Interesse tun. — „Mein Gott aber“, sagt er, „erfülle all euer Bedürfnis (χρείαν) oder all eure Wohltat (χάριν) oder all eure Freude (Χαράν)1. Liest man: all eure Wohltat, so meint der Apostel damit nicht bloß dieses irdische Almosen, sondern jedes gute Werk. Liest man aber: all euer Bedürfnis — und diese Lesart ist meiner Ansicht nach die richtigere —, so liegt die Sache so: Nachdem er gesagt: „Ihr waret nicht in der Lage“, macht er hier einen ähnlichen Zusatz wie im Briefe an die Korinther, wo er schreibt: „Er, der Samen reicht dem Säenden, wird auch Brot zum Essen reichen und eure Saat vervielfältigen und das Wachstum der Früchte eurer Gerechtig- S. 223 keit mehren2.“ Er wünscht ihnen Gottes Segen, und daß sie ihr gutes Auskommen und die Mittel zur Aussaat haben möchten; und zwar erfleht er ihnen nicht gutes Auskommen schlechthin, sondern „nach seinem Reichtum“. Demnach ist die Sprache des Apostels auch hier den Verhältnissen vollkommen angemessen. Denn wären sie gewesen wie er, ebenso erleuchtet (φιλόσοφοι), ebenso der Welt gekreuzigt, dann hätte er das nicht getan. Weil sie aber gewöhnliche Menschen waren, auf die Arbeit ihrer Hände angewiesen, arm, verheiratet, mit Kindern gesegnet, mit der Sorge für das Hauswesen belastet; weil sie von ihrem geringen Vermögen diese Liebesgaben geopfert hatten und bis zu einem gewissen Grade den Wunsch nach zeitlichem Besitz hegten: so läßt er sich zu ihnen herab und wünscht ihnen Gottes Segen. Denn es ist durchaus nicht unstatthaft, ein gutes und reichliches Auskommen denen zu wünschen, die einen solchen Gebrauch davon machen. Beachte nun wohl, wie sein Segenswunsch lautet! Er sagt nicht: Gott mache euch reich und sehr wohlhabend, sondern wie? „Er erfülle all euer Bedürfnis“, so daß ihr nicht Mangel zu leiden braucht, sondern die Mittel zur Befriedigung eurer Bedürfnisse habt. Denn auch Christus hat, als er uns eine Anleitung zum Gebete gab, diesen Punkt darin aufgenommen, indem er uns beten lehrte: „Gib uns heute unser tägliches Brot3!“ — „Nach seinem Reichtum.“ Das heißt: nach seiner Art zu geben; d. h. es ist ihm leicht und möglich, auch schnell zu geben. Und weil ich von „Bedürfnis“ gesprochen habe —: glaubet nicht, daß euch Einschränkungen bevorstehen! Deshalb fügte er bei: „nach seinem Reichtum in Herrlichkeit, in Christus Jesus.“ So überfließend wird euch alles zuteil werden, daß euer Wohlstand als Beweis seiner Herrlichkeit dienen wird. Entweder also: Ihr habt durchaus keinen Mangel zu leiden — die Schrift erzählt nämlich: „Und große Gnade war bei ihnen allen; denn es war kein Dürftiger unter ihnen4“ —; oder daß alle eure Handlungen S. 224 zum Beweise seiner Herrlichkeit dienen werden; als wenn er gesagt hätte: Damit ihr den Überfluß zu seiner Ehre gebrauchet.
V. 20: „Gott aber und unserem Vater sei die Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Diese Ehre aber kommt nicht bloß dem Sohne zu, sondern auch dem Vater; denn mit dem Sohne wird immer zugleich auch der Vater verherrlicht. Weil er nämlich gesagt hatte, daß dies zur Ehre Christi geschehe, so beugt er dem Mißverständnisse, als beschränke sich (die Ehre) auf den Sohn allein, durch den Zusatz vor: „Gott aber und unserem Vater sei die Ehre“, dieselbe, die dem Sohne zukommt.
V. 21: „Grüßet jeden Heiligen in Christus Jesus!“
Auch dies ist nichts Geringes; es zeugt nämlich von großem Wohlwollen, daß er sie auch schriftlich grüßt. — „Es grüßen euch die Brüder, die bei mir sind (In der Vulgata schon zum nächsten Vers gezogen.).“ — Du hast aber doch behauptet: „Ich habe keinen Gleichgesinnten, der so redlich an eurem Wohl und Wehe Anteil nähme5“. Wie kannst du da jetzt sagen: „die Brüder, die bei mir sind“? Entweder er nennt seine Begleiter Brüder; oder daß seine Bemerkung: „ich habe unter denen, die bei mir sind, keinen Gleichgesinnten“ nicht jenen gelte, die mit ihm in der Stadt waren — denn was hätten diese für eine Verpflichtung haben sollen, die Geschäfte der Apostel zu übernehmen? —; oder daß er sich nicht weigere, auch diese Brüder zu nennen.
V. 22: „Es grüßen euch alle Heiligen, besonders aber die aus dem Hause des Kaisers.“
V. 23: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen6.“
Er wollte sie aufrichten und ermutigen durch den Hinweis, daß die Predigt des Evangeliums sogar bis in den S. 225 kaiserlichen Palast gedrungen sei. Wenn nämlich die Beamten des kaiserlichen Palastes um des himmlischen Königs willen alles verachtet haben, so sollten sie dies umso mehr tun. Auch bekundete sich dadurch die Liebe des heiligen Paulus, daß er so vieles von ihnen erzählte und so Rühmendes von ihnen sprach, daß infolge dessen in den kaiserlichen Palastbeamten der Wunsch sich regte, herzliche Grüße an sie ausrichten zu lassen, obschon sie dieselben noch nie im Leben gesehen hatten. Denn gerade, weil die Gläubigen damals bedrängt wurden, war die gegenseitige Liebe so groß. Räumlich weit voneinander getrennt, fühlten sie sich als echte Glieder aufs innigste miteinander verbunden. Der Arme war gegen den Reichen ebenso gesinnt wie der Reiche gegen den Armen. Es gab keinen Vorzug, weil alle in gleicher Weise gehaßt und verfolgt wurden und aus denselben Gründen. Gleichwie nämlich Kriegsgefangene aus verschiedener Herren Länder, wenn sie an einen Ort zusammenkommen, sich enge aneinander schließen, da das gemeinsame Unglück sie innig verbindet: geradeso waren damals auch die Christen von großer Liebe zu einander beseelt, weil das gemeinsame Band der Leiden und Trübsale sie enge verknüpfte.