2.
Dies machte Gott den Juden zum Vorwurfe: „Die ihr getragen werdet vom Mutterleibe an, und unterwiesen bis ins Greisenalter1.“ Wenn ihr euch nicht immer darauf verließet, so ginge es nicht mit allem so rückwärts. Wenn es so wäre, daß die einen den Unterricht beendigten, die andern denselben begännen, dann hätte unsere Arbeit gedeihlichen Erfolg; ihr könntet dann anderen Platz machen und zugleich uns unterstützen. Sage mir, wenn Junge die Elementarschule besuchten und stets bei dem Erlernen des Abc verweilten, würden sie dem Lehrer nicht große Plage verursachen? Wie lange sollen wir euch noch über den Lebenswandel belehren? Zur Zeit der Apostel war es nicht so; sondern diese wanderten beständig von Ort zu Ort, indem sie ihre früheren Schüler als Lehrer für andere neue Schüler aufstellten. Nur dadurch, daß sie nicht an einen Ort gebunden waren, wurde es ihnen möglich, die ganze Welt zu durchziehen. Wie dringend, glaubt ihr wohl, bedürfen eure Brüder auf dem Lande und deren Lehrer des Unterrichts? Aber ihr haltet mich hier fest, wie angenagelt. Denn bevor es mit dem Haupte gut steht, hilft es nichts, an die Heilung des übrigen Körpers zu gehen. — Die ganze Last bürdet ihr uns auf. Nur ihr solltet von uns lernen; von euch aber die Frauen, von euch die Kinder. Statt dessen überlaßt ihr uns alles. Darum haben wir so viel zu tun. —
S. 363 „Belehret und ermahnet einander“, heißt es weiter, „durch Psalmen und Lobgesänge und geistliche Lieder!“ Beachte auch, wie Paulus nichts verlangt, was mit Unannehmlichkeit verbunden sein könnte. Weil das Lesen mühsam und sehr beschwerlich ist, so verweist er nicht auf die geschichtlichen Bücher, sondern auf die Psalmen, damit du durch den Gesang zugleich dein Herz erheitern und der Mühsal entgehen solltest. — „Durch Lobgesänge“, sagt er, „und geistliche Lieder.“ Heutzutage aber singen eure Kinder zwar satanische Lieder und Reigen gleich den Köchen, Marktsklaven und Reigentänzern; aber keines von ihnen kennt auch nur einen Psalm, vielmehr glaubt man, sich dessen schämen, darüber spotten und lachen zu müssen. Daher kommt es, daß alle Fehler ungehindert fortwuchern. Denn nach der Beschaffenheit des Bodens, in welchem die Pflanze steht, richtet sich auch die Beschaffenheit der Frucht, welche sie hervorbringt. Steht sie in sandigem und salzigem Boden, so ist auch die Frucht dementsprechend; steht sie in süßem und fettem, so entspricht die Frucht abermals. — So sind die (in der Schrift enthaltenen) Lehren gleichsam eine Quelle. Lehre dein Kind jene Psalmen voll echter Lebensweisheit singen, z. B. gleich den über die Sittenreinheit, oder vielmehr vor allem den über die Meidung schlechter Gesellschaft gleich am Anfange des Buches; denn aus diesem Grunde hat der Prophet auch damit begonnen. Er spricht: „Glückselig der Mann, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen2“; und wiederum: „Ich sitze nicht im Rate der Eitelkeit3“; und abermals: „Nichts gilt in seinen Augen der Bösewicht; diejenigen aber, welche den Herrn fürchten, hält er in Ehren4“. Weiter über den Umgang mit Guten. Auch das wirst du dort finden, und vieles andere: über die Mäßigkeit in Speise und Trank, über die Selbstbeherrschung, über die Ausschweifung, über die Vermeidung der Habgier, über die Nichtigkeit des irdischen Reichtums und Ruhmes und was dergleichen mehr ist. Wenn du dein Kind von frühester Jugend S. 364 an (in die Psalmen) einführst, so wirst du es allmählich auch zu Höherem führen. In den Psalmen ist alles enthalten, den Lobgesängen aber wieder liegt alles Irdische fern. Ist dein Kind in den Psalmen zu Hause, dann wird es auch das Erhabenere, die Lobgesänge, verstehen. Denn die himmlischen Heerscharen singen nicht Psalmen, sondern Hymnen. „Lob in des Sünders Munde“, sagt die Schrift, „ist nicht schön5“; und ferner: „Meine Augen sind gerichtet auf die Treuen im Lande, daß sie sitzen bei mir6“; und abermals: „Nicht wohnt in meinem Hause, wer prahlerisch tut7“; und wiederum: „Wer auf untadeligem Wege wandelt, der soll mir dienen8“. — Überwachet daher sorgfältig den Umgang eurer Kinder nicht nur mit Freunden, sondern auch mit dem Gesinde! Denn es ist für die Freien von unberechenbarem Schaden, wenn wir sie unter der Aufsicht verdorbener Sklaven lassen. Bleiben sie doch kaum vor Gefahren behütet, wenn sie vom Vater selbst mit größter Liebe und Weisheit erzogen werden. Wenn wir sie der Herzlosigkeit der Sklaven überantworten, so gehen diese mit ihnen wie mit Feinden um in der Meinung, glimpflichere Herren an ihnen zu bekommen, wenn sie dieselben zu Torheiten, Schlechtigkeiten und Nichtswürdigkeiten verleitet hätten. Vor allem andern also wollen wir in dieser Beziehung die größte Sorgfalt beobachten! „Ich liebe diejenigen, welche mein Gesetz lieben“, sagt der Psalmist9. Nach seinem Beispiele wollen denn auch wir nur diese lieben! — Damit ferner die Kinder sich der größten Sittenreinheit befleißen, sollen sie den Ausspruch des Propheten hören: „Meine Lenden sind voll Täuschungen10“; und wiederum sollen sie hören, wenn er spricht: „Du vertilgst jeden, der dich buhlerisch verlässt11.“ Und dass man dem Bauche nicht frönen dürfe, mögen sie abermals hören: „Und er tötete sehr viele von ihnen, da ihre Speise noch in ihrem Munde war12.“ Daß man auf Geschenke verzichten müsse: „Wenn Reichtum zuströmt, hänget das S. 365 Herz nicht daran13!“ Daß man die Ruhmsucht unterdrücken müsse: „Und seine Herrlichkeit wird nicht mit ihm hinunterfahren14.“ Daß man die Bösen nicht glücklich preisen dürfe: „Ereifere dich nicht über Bösewichte15!“ Daß Herrschaft und Macht für nichts zu achten sei: „Ich sah den Gottlosen überaus erhöht und emporragend wie die Zedern des Libanon; und ich ging vorüber, und sieh, er war nicht mehr16.“ Daß die gegenwärtigen Dinge gering zu schätzen seien: „Glückselig preist man das Volk, das solches hat; aber glückselig das Volk, dessen Helfer Gott der Herr ist17.“ Daß wir nicht ungestraft sündigen dürfen, sondern daß es eine Wiedervergeltung gibt: „Du vergiltst“, heißt es, „einem jeglichen nach seinen Werken18.“Warum aber Gott nicht jedesmal sofort vergelte, begründet er damit: „Gott ist ein gerechter, starker und langmütiger Richter19.“ Daß die Demut etwas Gutes: „Herr,“ spricht er, „nicht hochmütig ist mein Herz20.“ Daß der Stolz etwas Böses: „Darum“, heißt es, „beherrscht sie der Hochmut bis ans Ende21“; ferner: „Der Herr widersteht den Hoffärtigen22“; und wiederum: „Es kommt gleichsam aus Fett ihre Bosheit23.“ Daß das Almosen etwas Gutes ist: „Er streut aus, gibt den Armen; seine Gerechtigkeit währt ewig24.“ Daß die Barmherzigkeit etwas Löbliches ist: „Heil dem Manne, der Mitleid fühlt und leiht25.“ — Und so kannst du daselbst noch viel mehr Weisheitslehren finden; z. B. daß die üble Nachrede unerlaubt sei: „Wer heimlich seinen Nächsten verleumdet,“ heißt es, „den will ich verfolgen26.“ — Welches der Hymnus der Himmlischen ist? Die Gläubigen wissen es. Was die Cherubim oben singen? Was sangen die Engel (hienieden)? „Ehre sei Gott in der Höhe27!“ Deshalb folgen auf die Psalmen die Lobgesänge als etwas Vollkomme- S. 366 neres. — „Durch Psalmen,“ heißt es, „Lobgesänge, geistliche Lieder, in der Gnade Gott singend in euren Herzen.“ Damit meint er entweder: Aus Gnade (διὰ χάριν) hat Gott uns dieses verliehen; oder: durch Lieder in dankbarer Gesinnung (ταῖς ἐν τῇ χάριτι ᾠδαῖς), oder: Ermahnet und belehret einander in Liebe (ἐν χάριτι) oder: Durch die Gnade (ἐν χάριτι) erhielten sie diese Gnadengaben (χαρίσματα); oder es ist ein erklärender Zusatz: Angetrieben von der Gnade des Heiligen Geistes (ἀπὸ τῆς χάριτος τοῦ πνεύματος). — „Singend Gott in euren Herzen.“ Nicht bloß mit dem Munde, will er sagen, sondern mit Aufmerksamkeit. —
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Is. 46, 3. 4. ↩
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Ps. 1, 1. ↩
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Ebd. 25, 4. ↩
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Ebd. 14, 4. ↩
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Ekkli. 15, 9. ↩
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Ps. 100, 6. ↩
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Ebd. 100, 7. ↩
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Ebd. 100, 6. ↩
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Vgl. Ps. 118, 63. ↩
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Ps. 37, 8. ↩
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Ebd. 72, 27. ↩
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Ebd. 77, 30, 31. ↩
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Ps. 61, 11. ↩
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Ebd. 48, 18. ↩
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Ebd. 36, 1. ↩
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Ebd. 36, 35. 36 ↩
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Ebd. 143, 15. ↩
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Ebd. 61, 13. ↩
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Ebd. 7, 12 ↩
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Ebd. 130, 1. ↩
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Ps. 72, 6. ↩
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Sprichw. 3, 34. ↩
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Ps. 72, 7. ↩
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Ebd. 111, 9. ↩
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Ebd. 111, 5. ↩
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Ebd. 100, 5. ↩
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Luk. 2, 14. ↩