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Doch, dein Gatte hat dich geschützt vor allen Beleidigungen, die dir etwa von Menschen hätten widerfahren können. Was ist das Großes? Siehe, nicht einmal die bösen Geister können dir etwas (eigentlich) Böses zufügen, obwohl du jetzt Wittwe bist, geschweige die Menschen. Und bei Lebzeiten deines Mannes hattest du über die Dienerschaft Gewalt, wenn du solche besaßest, aber auch als Wittwe kannst du gebieten über unsichtbare Mächte, Herrschaften, Gewalten, die Fürsten dieser Welt.
Warum sagst du gar Nichts von den Trübsalen, die du mit deinem Manne theilen mußtest? Zum Beispiel S. 641 wenn die Mißgunst der Machthaber ihm trübe Stunden bereitete, oder die Bevorzugung der Nachbarn. Von all diesen Trübsalen, von Schrecken und Bangigkeiten bist du jetzt frei.
Aber voll Kummer fragst du, wer dir die verwaisten Kinder ernähren werde. Der Vater der Waisen. Wer hat sie dir denn gegeben? Weißt du nicht, daß Christus im Evangelium sagt: „Ist das Leben nicht mehr als die Nahrung, und der Leib nicht mehr als die Kleidung?“1 IV. Siehst du, daß deine Klage nicht aus der Sehnsucht nach deinem Lebensgefährten stammt, sondern aus deinem Unglauben?
Aber die Kinder können jetzt, da der Vater todt ist, nicht zu gleich hohen Ehren gelangen, wie wenn der Vater noch lebte. Warum denn nicht? Wenn sie Gott zum Vater haben, sind sie denn dann nicht angesehen und geehrt genug? Wie Viele könnte ich dir nennen, die von Wittwen erzogen wurden und zu hohen Ehren gelangt sind! Wie Viele aber auch, die von Vätern erzogen wurden, und Nichts geworden sind! Wenn du sie von Jugend auf gut erziehst, so haben sie davon eine viel größere Frucht, als wenn sie unter der Leitung eines Vaters aufgewachsen wären. Daß auch Wittwen die Fähigkeit und Aufgabe haben können, Kinder zu erziehen, geht hervor aus den Worten des heiligen Paulus, der da sagt: „Eine Wittwe werde gewählt, welche Kinder erzogen hat!“2 und: „Sie wird selig werden durch Kindergebären,“ (der Apostel sagt nicht: „Sie wird selig durch ihren Mann.“) „wenn sie im Glauben, in der Liebe, in der Heiligung verharret mit keuschem S. 642 Sinn.“3 Pflanzet in frühester Jugend in ihre Herzen die Furcht Gottes ein; diese wird sie besser hüten als jeglicher Vater es vermöchte, diese wird ihnen eine unzerstörbare, unüberwindliche Schutzwehr sein. Haben die Kinder den Wächter im Innern, dann bedarf es keiner äußeren Vorsichtsmaßregeln; fehlt aber dieser, so ist alles von außen Kommende unnütz. Diese Furcht Gottes wird ihr Reichthum sein, ihre Ehre, ihre Zierde, diese wird ihnen Glanz verleihen nicht nur hienieden auf Erden, sondern auch droben im Himmel. Blicke mir aber nicht immer auf die andern Kinder, die mit goldenen Gürteln geziert sind, die stolz auf Rossen reiten, die ihrer Väter wegen in den Königspalästen geehrt sind, die mit Erziehern einherwandeln, von einem Schwärm Bedienten umgeben! Solche Dinge sind es nämlich oft, die den Wittwen Herzeleid bereiten beim Anblick ihrer verwaisten Kinder. Denn sie denken: Ein solches Glück wäre meinem Sohne auch beschieden gewesen, lebte sein Vater noch; nun aber steht er da in der Welt, gedemüthigt, verachtet, verstoßen!