2.
2. Ihr wisset selbst sehr wohl, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
Das bezieht sich nicht bloß auf das allgemeine Weltende, sondern auch auf das Lebensende eines jeden Einzelnen. Denn beide Dinge, das Lebensende des einzelnen Menschen und das Ende der Welt sind einander sehr ähnlich und verwandt. Was dort an der ganzen Menschheit geschieht, findet hier am Einzelnen statt. Die Zeit des Weltendes begann eigentlich schon mit Adam, und die Zeit und der Tod eines Jeden von uns ist eigentlich nur ein Bild von dem Ende der Welt, und man würde nicht fehlen, würde man den Tod eines Einzelnen auch Weltende nennen, nämlich für den Betreffenden. Denn wenn Unzählige an jedem Tage sterben, und Alle auf den jüngsten Tag warten müssen und Keiner vor ihm auferstehen kann, kommt dann nicht Alles auf diesen Tag an? Wollt ihr aber wissen, warum derselbe verborgen ist, und warum er kommen wird wie ein Dieb in der Nacht, so will ich euch darüber meine Ansicht kundthun.
Wenn dieser Tag nicht verborgen, sondern bekannt wäre, so würde Niemand sein Leben lang unentwegt den Pfad der Tugend wandeln, sondern wenn man seinen Todestag wüßte, würde man zuerst alles mögliche Böse verüben und dann unmittelbar vor dem Eintritte des Todes sich taufen lassen. Wenn nun aber jetzt schon, wo doch die Furcht vor der Ungewißheit des Todes auf Viele einen gewaltigen Eindruck macht, gar Manche erst vor dem letzten Athemzüge sich taufen lassen, nachdem sie ihr ganzes Leben in Sünden und Lastern zugebracht, wer würde sich noch um Tugend kümmern, wenn man den Augenblick des Todes ganz sicher vorauswüßte? Sterben S. 681 jetzt schon, wo doch die Furcht vor der Ungewißheit des Todes jeden Menschen schrecken muß, Viele ohne die heilige Taufe, und hat nicht einmal diese Furcht sie zu einem gottgefälligen Leben zu bestimmen vermocht, wer würde fürderhin tugendhaft und gerecht leben, wenn auch diese Furcht noch beseitigt wäre? Niemand.
Andrerseits ist es diese Furcht, verbunden mit der Liebe zum Leben, welche Viele noch im Zaume hält. Denn wenn Mancher wüßte, daß er morgen ganz gewiß sterben müßte, so würde er sich heute keinerlei Beschränkung auferlegen, würde z. B. aus Rachsucht alle seine Feinde tödten, kurz, alle möglichen Unthaten begehen. II. Denn ein ruchloser Mensch, hat er einmal die Hoffnung auf längeres Leben aufgegeben, achtet auch nicht mehr des Königs im Purpurgewande. Hat er erst einmal die volle Gewißheit, daß er unbedingt sterben muß, dann ist es ihm nur um Sättigung seiner Rachgier zu thun, er mordet zuerst seine Feinde hin und läßt dann den Tod herankommen.