8.
IV. Demnach hat Gott uns nicht berufen, um uns zu verdammen, sondern um uns selig zu machen. Worauf erkennen wir aber, daß Dieß sein Wille sei? Dieß sehend wir daraus, daß er seinen Sohn für uns hingegeben hat. So sehr verlangt er nach unserem Heile, daß er seinen Sohn hingegeben, und nicht bloß hingegeben, sondern in den Tod hingegeben hat. Aus der Erwägung dieser Wahrheit wird die Hoffnung erzeugt. Verzweifle daher nicht, o Mensch, wenn du vor Gott hintrittst, vor ihn, der deinetwegen nicht einmal seines eigenen Sohnes geschont hat. Verzage nicht, wenn dich jetzt Leiden treffen! Da er seinen eingebornen Sohn hingegeben, dich vor der Hölle zu erretten und selig zu machen, welches weitere Opfer für dein Heil wird ihm zu groß sein? Darum darfst du getrosten Muthes sein. Wir würden ja auch nicht zittern, wenn wir vor einen Richter treten müßten, der eine solche Liebe S. 691 zu uns kundgegeben hätte, daß er sogar seinen eigenen Sohn preisgegeben. Darum noch einmal, laßt uns hoffen, und zwar Gutes und Großes! Das Größte haben wir schon empfangen, wie der Glaube uns lehrt. Wir haben ja schon im Werke gesehen, wie er uns zuvor geliebt, darum wollen wir ihm unsere Gegenliebe schenken. Die größte Thorheit wäre es ja, Den nicht wieder zu lieben, der uns eine solche Liebe entgegenbringt.
10. Damit wir, mögen wir nun schlafen oder wachen, zugleich mit ihm leben. 11. Darum ermahnet einander und erbauet einander, wie ihr es ja auch wirklich schon thut.
Auch früher schon hat der Apostel einmal von einem Wachen und Schlafen gesprochen, aber in einem andern Sinne wie hier. Hier versteht er unter Schlaf den leiblichen Tod, dort das sorglose, gleichgiltige Dahinleben. Er will also sagen: Fürchtet euch nicht vor Gefahren, denn wenn wir auch sterben sollten, wir werden doch leben. Darum, weil du von Gefahren bedrängt wirst, brauchst du nicht zu verzagen; du hast ein sicheres Unterpfand; wenn nämlich Gott nicht eine so große Liebe zu uns hatte, so hätte er seinen Sohn nicht für uns hingegeben. Darum wirst du das Leben besitzen, wenn du auch gestorben bist, denn auch er ist gestorben. Seien wir also lebendig oder todt, wir werden auf jeden Fall das Leben haben. Ich kann also ganz getrost auf Beides, auf Leben oder Tod, blicken, denn wenn ich nur mit ihm verbunden bin, dann werde ich das wahre Leben besitzen.
Darum wollen wir Alles für das ewige Leben thun, alle unsere Handlungen im Hinblick auf dieses vollbringen. Die Sünde, o Geliebteste, ist Finsterniß, ist Tod, ist Nacht; in ihr sehen wir Nichts von Dem, was wir sehen sollten, und thun Nichts von Dem, was wir vollbringen sollten. S. 692 Gleichwie die Todten ekelhaft aussehen und übel riechen, so ist auch das Herz der Sünder voll Unrath. Ihr Auge ist geschlossen, die Lippen sind zusammengepreßt, starr und unbeweglich liegen sie auf ihrem Sündenlager. Ja, sie sind noch elender daran als die körperlich Todten. Denn diesem sind doch todt für Beides, aber jene sind nur todt für das Gute, während sie für die Sünde recht lebendig sind. Einen Todten magst du schlagen oder stoßen, er fühlt es nicht, er rührt sich nicht, denn er ist wie dürres Holz. Und so gefühllos wie dürres Holz ist auch die sündige Seele, welche das Leben verloren hat. Täglich empfängt die Seele des Sünders unzählige neue Wunden, er aber fühlt Nichts, er ist empfindungslos. Nicht mit Unrecht könnte man solche Menschen auch mit Wahnsinnigen, mit Betrunkenen oder Verrückten vergleichen. Denn der im Sündenzustand Befindliche ist all diesen ähnlich, ja er ist noch schlimmer. Denn der Wahnsinnige findet Nachsicht bei Allen, die ihn sehen, da sein Zustand nicht aus eigener Verschuldung herrührt, sondern von der Natur selbst. Was kann aber der Sünder zu seiner Entschuldigung vorbringen?
Aber woher stammt denn das Böse? Woher kommt es, daß so viele Menschen böse sind? So fragst du vielleicht. Aber sage du mir, woher denn die schlimmen Krankheiten alle kommen. Woher kommt das hitzige Fieber? Woher unruhiger Schlaf? Woher anders, als von dem Mangel entsprechender Thätigkeit des Organismus? Wenn also schon körperliche Krankheiten schon vielfach bedingt sind durch eine entsprechende Bethätigung oder Nichtbethätigung des freien Willens, um wie viel mehr wird das der Fall sein bei Zuständen, die lediglich durch den Willen des Menschen bedingt sind! Welches ist die Ursache der Trunkenheit? Ist’s etwa nicht die Unenthaltsamkeit der Seele? Und kommt der Wahnsinn nicht von dem Übermaß der Fieberhitze? Und die Fieberhitze? Kommt sie nicht von dem Übermaß gewisser Säfte in unserem Orga- S. 693 nismus? Und hat dieses Übermaß nicht seinen Grund im Mangel an entsprechender Thätigkeit des Organismus? Denn wenn wir durch ein zu Viel oder zu Wenig ein unrichtiges Verhältniß der Stoffe in unserem Organismus bewirken, so fachen wir diese Fieberhitze an, und wenn wir dieses Feuer nicht beachten, so wird gar bald eine Feuermasse in uns vorhanden sein, die wir nicht mehr zu bewältigen vermögen. So geht es auch mit dem Bösen. Wenn wir es nicht gleich im Entstehen bekämpfen, nicht gleich Anfangs ausrotten, so können wir es später nicht mehr vertilgen, denn unsere Kräfte reichen dann nicht mehr aus.