9.
Darum ermahne ich euch, alle Kräfte aufzubieten, damit ihr nicht einschlafet. Ihr wisset ja, daß den Wächtern ihre ganze Wache vergeblich ist, wenn sie sich nur ein wenig dem Schlafe überlassen. Durch ihren, wenn auch nur kurzen Schlaf, haben sie den Dieb ermuthigt und haben so Alles verloren. Denn gleichwie wir die Diebe nicht so gut sehen, wie diese uns, so lauert auch der Teufel auf uns, voll Achtsamkeit und mit Zähneknirschen. Lasset uns also nicht einschlafen und nicht sagen: Das ist Kleinigkeit und jenes auch. Haben wir nicht schon oft einen Schaden erlitten von einer Seite her, von der wir es am wenigsten vermutheten? So ist es auch mit der Sünde. In mancher Beziehung haben wir vielleicht schon Schaden gelitten, gerade da, wo wir es gar nicht geahnt haben.
Halten wir daher sorgfältig und genau Umschau nach allen Seiten, berauschen wir uns nicht, dann werden wir auch nicht einschlafen. Ergeben wir uns nicht einem weichlichen Leben, dann werden wir wachsam bleiben; hängen wir unser Herz nicht unsinnig an irdische Dinge, dann werden wir allzeit nüchtern sein. Regeln wir unsern Handel genau in jeder Beziehung, und gleichwie der Seiltänzer, wenn er auf dem straffen Seile wandelt, keinen Augenblick von der größten Achtsamkeit ablassen darf, (denn S. 694 eine Kleinigkeit kann ihm großes Unheil bringen, — er gleitet aus, stürzt hinab und geht zu Grunde) gerade so also dürfen auch wir uns nicht im Mindesten der Sorglosigkeit überlassen. Schmal ist der Pfad, den wir zu wandeln haben, rechts und links von Abgründen umgeben, so schmal, daß wir nicht beide Füße zugleich aufsetzen können. Begreifst du, daß da große Vorsicht von Nöthen ist? Bemerkst du nicht, daß die Wanderer auf solchen Wegen nicht nur für den Fuß sorgfältig einen festen Punkt suchen, sondern auch sorgsamst auf die Augen achten? Wollte so ein Wanderer sein Auge dahin und dorthin schweifen lassen, so könnte er leicht, wenn auch sein Fuß noch so festen Halt hätte, in der Nähe des Abgrundes vom Schwindel ergriffen, den sichern Gebrauch des Sehvermögens verlieren und mit dem ganzen Körper in die Tiefe stürzen. Darum muß der Wanderer sowohl auf seinen ganzen Körper als auch auf jede seiner Bewegungen achten. Deßhalb steht geschrieben: „Weichet weder zur Rechten noch zur Linken ab!“1 Tief ist der Abgrund der Sünde, ganz jäh die Wände dieses Abgrundes, schauerlich ist die dort herrschende Finsterniß, schmal der Weg, der daran vorbei führt, darum laßt uns Acht haben mit Furcht, wandeln mit Zittern. Wer auf schmalem Pfade über einen Abgrund wandeln muß, dem fällt es nicht ein, ein lautes Gelächter zu erheben, oder in trunkenem Zustande sich auf den Weg zu machen, nein, in aller Nüchternheit und bei klarem Verstande betritt er einen solchen Pfad. Er trägt auch nichts Überflüssiges bei sich. Je weniger beschwerendes Gepäck, desto besser. An seinen Füßen duldet er nichts Hemmendes, sondern ungehindert und frei muß er sie bewegen können. Wie dürfen wir aber erwarten, daß wir sicher den schmalen Pfad wandeln werden, wenn wir uns mit unzähligen Sorgen fesseln, mit tausend lästigen Anhängseln S. 695 dieses Lebens beschweren, und keuchend und kraftlos daherkommen?
Der Heiland hat nicht bloß einfach gesagt: „Der Weg ist schmal,“ sondern mit dem Ausdrucke des Staunens: „Wie schmal ist der Weg!“2 Damit wollte er sagen, er sei sehr schmal. Denn auch wir haben heutzutage noch diese Ausdrucksweise, um unsere Verwunderung über etwas auszudrücken. Weiter fährt er fort: „Schmal ist der Weg, der zum Leben führt,“ und mit Recht sagt er: Schmal. Denn wenn wir über alle unsere Gedanken, Worte und Werke Rechenschaft ablegen müssen, so ist er doch wohl wahrhaftig schmal. Wir machen ihn aber selbst noch schmaler, wenn wir uns noch mehr ausdehnen und breiter machen und die Füße ausstrecken. Denn ein schmaler Weg ist Jedem beschwerlich, am meisten aber einem Beleibten. Wer sich schlank und mager erhält, der merkt um die Enge des Weges, und wer es sich angelegen sein ließ, sich selbst zu züchtigen, der mag auch einige Quetschungen wohl ertragen. Bilde sich nur Keiner ein, er werde bei einem bequemen, gemächlichen Leben den Himmel schauen; denn das ist nicht möglich. Keiner hoffe, als Schwelger den schmalen Weg wandeln zu können, denn es kann nicht sein. Keiner, der auf der breiten Straße wandelt, hoffe, das ewige Leben zu erlangen!