II.
„Aber ich fand Erbarmen, weil ich unwissend handelte im Unglauben.“ Warum also fanden die anderen Juden kein Erbarmen? Weil sie nicht aus Unwissenheit, sondern mit Bewußtsein und vollem Verständniß thaten, was sie gethan. Und damit du dich davon vollständig überzeugst, höre den Evangelisten, wenn er sagt, daß „Viele von den Pharisäern und Juden zwar glaubten, aber den Glauben nicht bekannten. Sie liebten nämlich die Ehre bei den Menschen mehr als die Ehre bei Gott.“1 Und wiederum sagt Christus: „Wie könnt ihr glauben, da ihr Ehre von einander annehmet?“2 Und abermals heißt es: „Dieses sagten die Eltern des Blindgebornen wegen der Juden, damit sie nicht aus der Synagoge gestoßen würden.“3 Und die Juden selber hinwiederum sagten: „Sehet, wir richten Nichts aus, weil die ganze Welt ihm nachläuft!“4 Allenthalben quälte sie ja die Leidenschaft der Herrschsucht. Und doch sagten sie selber: „Niemand kann Sünden vergeben als Gott allein.“5 Und sofort that Christus, was sie für ein Zeichen Gottes erklärt hatten. Wo war aber zu jener Zeit Paulus? Vielleicht, könnte man behaupten, zu den Füßen Gamaliels, fern von dem Getriebe des großen Haufens. Gamaliel war ein Mann, der um der Herrschsucht willen Nichts that. Wie finden wir nun Paulus später unter dem großen Haufen? Er sah, wie das Christenthum wuchs und dann zur Herrschaft kam, und wie Alles ihm zuströmte. Zu Christi Lebzeiten schaarten die Leute bald sich um seine Person, bald um die Schrift- S. 45 gelehrten. Als sie sich aber gänzlich von diesen abgewandt hatten, da erst that Paulus, was er that, nicht aus Herrschsucht wie die Übrigen, sondern aus Eifer. Weßhalb reiste er denn nach Damaskus? Er hielt das Christenthum für eine faule Sache und fürchtete, die Predigt desselben möchte sich überallhin verbreiten. Anders die Juden. Nicht aus Rücksicht auf das Volk thaten sie Alles, sondern um der Herrschsucht willen. Man höre nur, wie sie sprachen: „Sie werden unser Volk und unsere Stadt verderben.“6 Welche Furcht war es, die sie erbeben machte? Menschenfurcht.
Übrigens ist der Punkt einer genaueren Betrachtung werth, wie Paulus, der genaue Kenner des Gesetzes, ein „Unwissender“ sein konnte. Er selber hat ja gesagt, daß „Gott das Evangelium in der Vorzeit durch seine Propheten verheissen hat.“7 Wie konntest also du, der Eiferer für das Gesetz der Väter, du als Schüler zu den Füßen Gamaliels sitzend, ein Unwissender sein? Männer, die auf Flüssen und Seen sich herumtrieben, und Leute von der Zollbank liefen herbei und nahmen den Glauben an, du aber, der Gesetzeskundige, übernimmst die Rolle eines Verfolgers? Deßhalb hat er über sich selbst das Urtheil gesprochen mit den Worten: „Ich bin nicht werth, ein Apostel zu heissen.“8 Deßhalb bekennt er sich zu einer Unwissenheit, welche ein Kind des Unglaubens war. Darum sagt er, daß er „Erbarmen gefunden“.
Was heißt: „Er hat mich für treu erachtet“? Der Apostel gab Nichts preis von Dem, was des Herrn ist. Er schreibt ihm Alles zu, auch sein Eigenes. Er eignete Gottes Ehre nicht sich zu. Höre, wie er auch anderwärts spricht: „Männer, warum hört ihr auf uns? Wir sind S. 46 Menschen wie ihr.“9 Das heißt: „Er hat mich treu befunden.“ Und wiederum anderwärts: „Ich habe mehr gearbeitet als sie alle, aber nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir.“10 Und wiederum: „Er, der in uns das Wollen und Vollbringen bewirkt.“11 Der Apostel erklärt sich mit jenen Worten als strafwürdig; denn solche Leute sind es, welche des Erbarmens bedürfen. Und anderwärts spricht er wieder: „Blindheit war zum Theil in Israel; aber die Gnade Gottes war überströmend mit dem Glauben und der Liebe in Christo Jesu.“12 Wie steht es also damit? Wenn du von einem „Erbarmen“ hörst, so sollst du nicht an Das allein denken. „Ich war ein Lästerer, Verfolger und Mißhandler“ spricht der Apostel. Also war er auch strafwürdig. Aber die Strafe wurde nicht verhängt: „Ich fand Erbarmen.“ Aber hat es damit sein Bewenden und erstreckt sich das Erbarmen nur darauf, daß ihm die Strafe geschenkt wird? Keineswegs, sondern es sind noch gar viele andere und große Dinge damit verbunden. Denn nicht bloß von der drohenden Strafe hat uns Gott befreit, sondern er hat uns auch gerecht gemacht, hat uns zu Kindern gemacht, zu Brüdern. Freunden, Erben und Miterben (Christi). Deßhalb heißt es: „Die Gnade war überströmend,“ um anzudeuten, daß die Geschenke über das Mitleid noch hinausgingen. Denn so Etwas thut nicht Jemand, der bloß Mitleid hegt, sondern Jemand, der freundschaftliche Gesinnung hat, der zärtliche Liebe empfindet.
Nachdem nun der Apostel Vieles und Großes gesagt hat über die Barmherzigkeit Gottes, daß Gott mit ihm, dem Lästerer, Verfolger und Mißhandler, Erbarmen hatte, und daß er dabei allein nicht stehen blieb, sondern ihn noch vieler anderen Dinge würdigte, wendet er sich dann gegen den S. 47 Einwand der Ungläubigen, gegen die Behauptung, daß die Willensfreiheit aufgehoben sei. Er fügt also bei: „Mit dem Glauben und der Liebe, die da ist in Christo Jesu.“ Darin allein besteht unsere Leistung will er sagen; wir haben geglaubt, daß Gott uns das Heil verleihen kann.