III.
Wollen wir ihn also lieben durch Christus! Was heißt Das: „durch Christus“ (διὰ Χριστοῦ)? Daß er es ist, welcher uns Das vermittelt, nicht das Gesetz. Siehst du, welche Güter uns durch die Vermittlung Christi zugeflossen sind, und welche durch die des Gesetzes? Auch hat der Apostel nicht einfach gesagt: „Die Gnade war in Fülle vorhanden (ἐπλεόνασεν), sondern: „sie war überströmend“ (ὑπερεπλεόνασεν). Und wahrhaftig, Das war ein Überströmen, wenn sie Menschen, welche zahllose Strafen verdient hatten, plötzlich zur Kindschaft (Gottes) hinführt! Man beachte ferner das Wörtchen „in“ (ἐν)! Es ist so viel wie „durch“ (διά). Nicht bloß Glauben ist nothwendig, sondern auch Liebe. Es gibt auch heutzutage noch Viele, welche an die Gottheit Christi glauben, aber ihn nicht lieben und die Werke der Liebe nicht ausüben. Wie wäre es möglich, da ihnen alles Andere lieber ist: Geld, Geburt, Schicksalsglaube, Beobachtung des Vogelfluges, Wahrsagereien und Augurien? Wenn wir aber durch unseren Wandel Gott Unehre machen, sage mir, was ist das für eine Liebe? Wenn Jemand einen Freund hat, den er warm und feurig liebt, so soll er wenigstens auch Gott so lieben, ihn, der seinen Sohn hingegeben hat für seine Feinde, obwohl wir gar kein Verdienst aufzuweisen hatten. Ja, was sage ich, ein Verdienst! Wir hatten die ärgsten Sünden begangen und uns die Frechheiten erlaubt ohne jede Ursache. Aber Gott hatte uns nach allen Wohlthaten und Liebesbeweisen auch jetzt nicht verworfen, sondern gerade jetzt, wo wir noch mehr Böses verübten, uns seinen Sohn geschenkt. Wir dagegen haben ihm trotz all des Guten, das wir ihm verdanken, nicht einmal die Liebe erwiesen, die S. 48 man einem Freunde zollt. Welche Hoffnung bleibt uns noch? Ihr erschrecket über dieses Wort! Möchtet ihr über euere Werke erschrecken!
Und wie kannst du behaupten, erwidert man, daß wir Gott nicht einmal jene Liebe erweisen, die wir einem Freunde zollen? Wie ich Das behaupten kann? Ich will versuchen, es zu beweisen. Ich wünschte allerdings, daß meine Worte mehr ein leeres Gerede wären als eine begründete Behauptung. Aber ich fürchte, daß sie nur allzu richtig sind. Man sehe! Für Freunde, für wirkliche Freunde haben Viele nicht selten Verluste auf sich genommen; um Christi willen aber will man nicht nur keinen Verlust erleiden, sondern nicht einmal mit Dem, was man hat, zufrieden sein. Für Freunde haben wir uns oft beschimpfen und anfeinden lassen; Christi wegen aber will Niemand von einer Feindschaft Etwas wissen, sondern da heißt es: „Die Liebe ist umsonst, der Haß aber nicht.1 An einem hungernden Freunde werden wir nicht vorüber gehen; Christum aber, der uns täglich angeht, nicht um große Gaben, sondern bloß um Brod, lassen wir gar nicht zu uns, und zwar zu einer Zeit, wo wir übelriechende Dinge heraufrülpsen, breit und mit vollem Bauche daliegen, vom gestrigen Weine stinken, das Geld hinauswerfen theils an Huren, theils an Schmarotzer, theils an Schmeichler, theils für Schaubuden, Narren und Zwerge; denn auch solche Verirrungen der Natur werden zu einem Gegenstande des Vergnügens gemacht. Gegen Freunde, wahre Freunde empfinden wir niemals einen Neid, und ihr Glück veranlaßt keine Regung der Bitterkeit in uns; bei Christus aber passirt uns Das allerdings. Irdische Freundschaft zieht offenbar mehr als die Furcht Gottes. Auch der heimtückische S. 49 und neidische Mensch hat mehr Respekt vor den Menschen als vor Gott. Wie so? Ich will es sagen! Obwohl nämlich Gott in’s Herz sieht, läßt er doch nicht ab von seinem Ränkeschmieden. Wenn ihn aber ein Mensch beobachtet, dann ist es aus, dann wird er roth. Warum ich Das sage? Zu einem Freund, der im Unglück ist, laufen wir herbei; und wenn wir nur ein wenig zögern, so fürchten wir, man möchte es uns übel nehmen; Christo aber, der oft im Gefängnisse stirbt, machen wir nicht einmal einen Besuch. Und zu treuen Freunden eilen wir hin, nicht weil sie treu, sondern weil sie Freunde sind.
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Εἰκῇ φιλοῦ, εἰκῇ μὴ μισοῦ. Ohne Zweifel ein Sprichwort jener Zeit. „Feindschaften bringen Unannehmlichkeiten“ soll es hier bedeuten. ↩