Einleitung von Chrysostomus
S. 9 Von den Schülern des Apostels war auch Timotheus einer. Und zwar bezeugt Lukas,1 daß er ein vortrefflicher junger Mann war, empfohlen durch die Brüder in Lystra und Ikonium, Schüler und Lehrer zugleich. Und so verständig war er, daß, obschon er hörte, wie Paulus mit seiner Predigt ausserhalb der Beschneidung stand, und wie er sogar deßhalb dem Petrus opponirte, er es doch vorzog, nicht bloß gegen die Beschneidung nicht zu predigen, sondern dieselbe sogar anzunehmen. Paulus ließ ihn nämlich in vorgerücktem Alter beschneiden, wie es heißt. Und so vertraute er ihm die Heilsverwaltung in ihrem ganzen Umfange2 an.
Übrigens würde schon die innige Zuneigung des Paulus genügen, um den Mann zu charakterisiren. Auch anderwärts nämlich gibt er Zeugniß für ihn in Schrift und Wort: „Seine Bewährung kennet ihr, daß er gleich einem Sohne mit dem Vater dem Evangelium mit mir diente.“3 Und S. 10 im Brief an die Korinther sagt er: „Ich schickte euch den Timotheus, der mir ein lieber und treuer Sohn in dem Herrn ist;“ und wiederum: „Sehet, daß Keiner ihn gering achte; denn er wirket das Werk des Herrn gleichwie auch ich.“4 Und im Brief an die Hebräer: „Erkennet den Bruder Timotheus an, der entsandt worden ist!“5 Und allenthalben kann man Beweise für diese große Zuneigung finden. Auch die Wunder, welche gegenwärtig geschehen, sind ein Beweis für die hohe Tugend des Mannes.6
Man könnte aber fragen, warum denn der Apostel an Titus und Timotheus allein schreibt, obschon auch Silas zu den ausgezeichneten Männern gehörte und ebenso Lukas. Er schreibt ja selber: „Lukas allein ist bei mir.“7 Auch Clemens befand sich in seiner Umgebung; denn er sagt von ihm: „Mit Clemens und meinen übrigen Mitarbeitern.“8 Warum schreibt er also an Titus und Timotheus allein? Weil er Diesen bereits kirchliche Gemeinden anvertraut, die Anderen aber noch auf seinen Reisen zu Begleitern hatte. Den Beiden hatte er berühmte Orte zum ständigen Sitze zugewiesen. So groß war nämlich bei Timotheus das Übermaß der Tugend, daß dessen jugendliches Alter gar kein Hinderniß bildete. Es heißt deßhalb im Briefe: „Niemand soll deine Jugend verachten;“ und wiederum: „Gleich jüngeren Schwestern.“9 Wo nämlich Tugend ist, da ist Alles im Überfluß, und Nichts ist hinderlich. Und indem der Apostel von den Bischöfen spricht und ausführlich über sie handelt, befaßt er sich nirgends näher mit dem Alter.
S. 11 Wenn aber im Briefe die Rede ist von „Kindern, die im Gehorsam erhalten werden sollen,“ und von dem „Manne eines einzigen Weibes“,10 so will der Apostel damit nicht sagen, daß ein Bischof Weib und Kind haben müsse, sondern falls es sich einmal treffen sollte, daß weltliche Leute zu dieser Würde gelangten, so müßten sie im Stande sein, einem Hause vorzustehen, den Kindern u. s. w. Denn falls Einer dem weltlichen Stande angehörte und nicht einmal zu diesen Dingen zu brauchen wäre, wie könnte ihm die Besorgung einer kirchlichen Gemeinde anvertraut werden?
Warum schrieb aber der Apostel dem Schüler, der bereits als Lehrer aufgestellt war? Hätte er nicht erst vorher vollständig unterrichtet und dann erst abgesandt werden sollen? Allerdings; allein die Belehrung, die er bedurfte, war nicht diejenige, die einem Schüler, sondern die einem Lehrer ziemte. Man beachte also, wie der Apostel im ganzen Briefe Belehrungen gibt, wie sie ein Lehrer braucht! Gleich im Eingang sagt er nicht: „Höre nicht auf Solche, die anders lehren,“ sondern wie? „Verkünde ihnen, daß sie nicht anders lehren!“11
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Apostelg. 16, 2. ↩
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D. h. bei Juden und Heiden. ↩
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Philipp. 2, 22. ↩
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I. Kor. 4, 17; 16, 11. ↩
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Hebr. 13, 23. ↩
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Es sind die Wunderzeichen am Grabe des Timotheus gemeint, von denen Chrysostomus in seiner ersten Homilie an die Antiochener spricht. ↩
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II. Tim. 4, 14. ↩
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Philipp. 4, 13. ↩
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I. Tim. 4, 22; 5, 2. ↩
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I. Tim. 3, 4. ↩
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I. Tim. 1, 3. ↩