III.
Damit wir nämlich nicht einschlummern, nicht leichtsinnig werden und die Drohworte nicht vergessen, mahnt Gott uns durch Thatsachen und weckt uns auf, indem er uns zeigt, wie er auf Erden schon verurtheilt, richtet und zur Rechenschaft zieht. Bei den Menschen sollte die Gerechtigkeitspflege so hoch gehalten, von Seite Gottes aber, der doch auch diese Gesetze gegeben hat, sollte sie keine Berücksichtigung finden? Wie wäre das glaublich! In Häusern, auf dem Markte, überall sehen wir Gerichtshöfe. Im Hause sitzt der Herr tagtäglich über die Dienstboten zu Gericht, verlangt Rechenschaft über ihre Fehler, straft die einen, verzeiht den andern. Auf dem Lande sitzt der Bauer und sein Weib tagtäglich zu Gericht, auf dem Schiff richtet der Steuermann über die Matrosen, in der Armee der Feldherr über die Soldaten. Und so gibt es eine Menge Gerichtshöfe. Im Handwerk ist der Meister Richter über den Lehrling. So haben wir im öffentlichen und Privatleben durchgängig ein Gerichthalten der Einen über die Andern, nirgends sieht man das Recht vernachlässigt, sondern allenthalben wird von allen Leuten Rechenschaft verlangt. Wenn also hier auf Erden das Streben nach Recht und Gerechtigkeit so verbreitet ist in jeder Stadt, in jedem Hause, bei jedem einzelnen Menschen, dann sollte im Jenseits, wo „die Hand Gottes voll ist von Gerechtigkeit und seine Gerechtigkeit wie die Berge Gottes,“1 Recht und Gerechtigkeit Nichts gelten? Und wie kommt es, daß Gott, der gerechte, starke und langmüthige Richter so viel Geduld hat und keine Strafe verhängt? Hier hast du die Ursache: er ist langmüthig, aber seine Langmuth hat nur den Zweck, daß du deinen Sinn änderst, verharrst du S. 290 aber in deiner Gesinnung, „so häufest du dir seinen Zorn in Gemäßheit deines verhärteten und unbußfertigen Herzens.“2 Wenn also Gott gerecht ist, so übt er Vergeltung nach Verdienst, so läßt er Diejenigen, die Schlimmes erdulden müssen, nicht ungerächt, so muß er handeln als gerechter Gott. Ist er stark, so weiß er Vergeltung zu üben auch nach dem Tode und bei der Auferstehung, so muß er handeln als starker Gott. Ist er langmüthig und als solcher geduldig, so wollen wir uns nicht irre machen lassen und nicht fragen: Warum faßt er die Sünder nicht schon in dieser Welt? Wäre das der Fall, so wäre das Menschengeschlecht längst dahingerafft, wenn nämlich Gott jeden Tag für unsere Sünden von uns Rechenschaft verlangen würde. Ach, es gibt ja keinen Tag, der rein wäre von Fehlern, an dem wir nicht eine schwere (μέγα) oder läßliche (μικρόν) Sünde begehen. Und so würde keiner von uns nur 20 Jahre alt werden, wenn Gottes Langmuth und Güte nicht so groß wäre, wenn sie uns nicht Zeit zur Sinnesänderung geben würde, so daß wir uns von der Sündenlast befreien können. Jeder soll also, indem er mit aufrichtigem Gewissen seine Handlungen durchforscht und seinen Lebenswandel sich vor Augen stellt, sehen, ob er nicht tausendmal Verurtheilung und Strafe verdient. Und wenn er sich unwillig frägt, warum dieser oder jener sündenbeladene Mensch nicht bestraft wird, dann soll er seine eigenen Sünden betrachten und er wird aufhören sich zu ärgern.
Die Sünden des Andern erscheinen oft groß, weil ihr Objekt groß und auffallend ist. Prüft man aber seine eigenen Sünden, so wird man deren vielleicht eine größere Anzahl finden. Bei Raub und Geiz bleibt sich’s gleich, ob sie auf Gold oder Silber sich beziehen. In beiden Fällen liegt ja dieselbe Gesinnung zu Grunde, und wer wenig stiehlt ist bereit auch viel zu stehlen. Wenn die Gelegenheit zu Letz- S. 291 terem fehlt, so liegt das nicht am Dieb, sondern am Zufall. Der Arme, der einen noch ärmeren verletzt, würde, falls er könnte, auch den Reichen nicht verschonen; bloß seine Schwäche, nicht sein Wille ist schuld, daß es unterbleibt. „Da ist einer der Herr, sagt man, und beraubt seine Untergebenen.“ Sage, bist du nicht auch ein Räuber? Komm’ mir nicht damit, daß jener Tausende nimmt und du bloß zehn Pfennige! Auch beim Almosenspenden im Evangelium haben die Einen Goldstücke in den Opferkasten geworfen, die arme Wittwe aber nur zwei Heller, und doch hat sie nicht weniger gegeben als die Reichen. Warum? Auf den guten Willen kommt es an, nicht auf die Gabe. Wenn du also in Bezug auf das Almosen ganz einverstanden bist, daß Gott die Sache so beurtheile, und daß ein Armer, auch wenn er nur zwei Heller gibt, nicht weniger spendet, als wer Tausende hinwirft, warum soll es in Bezug auf die Habsucht sich anders verhalten? Was hatte das für einen Sinn? Wie jene Wittwe, die zwei Heller als Almosen gab, wegen ihres guten Willens nicht weniger gab als die Andern, so bist du, wenn du zwei Heller stiehlst, nicht besser daran als andere, ja wenn ich ein überraschendes Wort aussprechen soll, du leidest an noch größerer Habsucht als der Millionendieb. Ob einer mit dem Weibe des Königs oder mit dem eines Armen oder eines Sklaven Ehebruch treibt, der Ehebruch bleibt sich gleich, er wird nicht nach dem Unterschied der Personen, sondern nach der Schlechtigkeit des sündhaften Willens beurtheilt. Ebenso ist es in dem obigen Falle. Ja ich möchte den noch einen schlimmeren Ehebrecher nennen, der sich an dem nächst besten Weibe vergreift, als den, der sich an die Frau des Königs macht: denn im letzteren Falle ist es Reichthum, Schönheit und andere Dinge, die verlocken, im andern Nichts; also ist der erstere ein schlimmerer Ehebrecher. Einen Säufer nenne ich den mit mehr Recht, der sich mit schlechtem Wein betrinkt. Und ebenso einen Habsüchtigen den, der auch Geringes nicht verschmäht. Wer große Summen nimmt, der würde vielleicht kleine liegen lassen; aber wer Kleines nimmt, S. 292 der verachtet auf keinen Fall Großes; also ist er schlimmerer Dieb. Wie sollte der das Gold verachten, welcher das Silber nicht verachtet?
Also wenn wir die Großen tadeln, so wollen unsere eigenen Sünden vor Augen haben, und wir werden finden, daß wir schlimmere Diebe und Geizhälse sind als sie, falls wir nicht nach der That, sondern nach dem Willen urtheilen, wonach man auch urtheilen soll. Sag mir, wenn ein Räuber am Armen und ein Räuber am Reichen vor Gericht stehen, erhalten sie nicht Beide dieselbe Strafe? Ferner, ist der Mörder nicht derselbe Mörder, ob er nun einen Krüppel und Bettler, oder einen reichen und schönen Mann tödtet? Wenn wir also sagen, daß Der oder Jener ein ganzes Gütchen geraubt hat, so betrachten wir unser eigenes Leben, und wir werden Andere nicht verurtheilen, werden Gott bewundern wegen seiner Langmuth, wir werden nicht unwillig werden darüber, daß das Gericht nicht über sie kommt und wir werden uns besinnen zu sündigen. Wenn wir sehen, daß wir dasselbe verschuldet haben wie sie, dann werden wir uns nicht mehr in solcher Weise ärgern, sondern werden von unseren Sünden abstehen und der künftigen Seligkeit theilhaftig werden in Jesus Christus unserm Herrn, welchem mit dem Vater und dem hl. Geiste sei Lob, Herrlichkeit und Ehre jetzt und allzeit und in Ewigkeit. Amen.