III.
Vieles nämlich hat Gott zugelassen, um die Schwäche der menschlichen Natur zu zeigen. Wenn die stumpfsinnigen Juden trotzdem schon fragten: „Wo ist Moses, der uns aus Ägypten geführt hat?“ was wäre erst passirt, wenn er sie auch noch in’s Land der Verheissung geführt hätte? Würde Gott nicht zugelassen haben, daß die Furcht vor Pharao über ihn Herr wurde, hätten sie ihn nicht für einen Gott gehalten? Solches ist, wie wir wissen, auch den Einwohnern von Lystra mit Paulus und Barnabas passirt; sie hielten dieselben für Götter, bis Beide ihre S. 394 Kleider zerrissen, unter den Volkshaufen sprangen und schrieen: „Ihr Männer, was treibt ihr da? Wir sind sterbliche Menschen wie ihr!“1 Und wiederum, als Petrus den Lahmgeborenen geheilt hatte und Alles über diesen Vorfall staunte, sprach derselbe: „Ihr Männer von Israel, was wundert ihr euch darüber, und was schauet ihr uns an, als ob wir aus eigener Kraft und Frömmigkeit diesen Mann gehend gemacht hätten?“2 Höre weiter, was der heilige Paulus spricht: „Es ist mir gegeben worden der Stachel des Fleisches, damit ich mich nicht überhebe.“3 Ja, das ist bloß die Sprache der Demuth, sagt man. Bewahre, so ist es nicht! Nicht deßhalb ist ihm „der Stachel gegeben worden, damit er demüthig von sich denke, und nicht aus bloßer Demuth macht er diese Äusserung, sondern auch aus anderen Gründen. Schau nur, wie Gott die Sache begründet! Er sagt nicht: „Es genügt dir meine Gnade, damit du dich nicht überhebst,“ sondern wie denn? „Meine Kraft ist mächtig in der Schwachheit.“ Also ein doppelter Zweck war damit erreicht: die Thatsachen wurden einerseits glaubwürdig, andererseits wurde das Ganze Gott zugeschrieben.4 Deßhalb spricht der Apostel auch an einer andern Stelle: „Wir tragen diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen,“5 d. h. in krankheitsfähigen und schwachen Leibern. Warum? „Damit das Überschwengliche der Kraft von Gott stamme und nicht von uns.“ Waren ihre Leiber nicht krankheitsfähig gewesen, so wäre Alles ihnen zugeschrieben worden.
S. 395 Auch anderwärts sehen wir den Apostel über Krankheit klagen; von Epaphroditus nämlich sagt er: „Er war auf den Tod krank, aber Gott hat sich seiner erbarmt.“6 Und in vielen anderen Dingen nehmen wir dieses Unvermögen bei dem Apostel wahr, und Das war für ihn sowohl wie für seine Jünger zum Heile.
Den Trophimus habe ich krank in Milet zurückgelassen.
Milet liegt nahe bei Ephesus. Also muß diese Erkrankung in die Zeit fallen, als Paulus nach Judäa abfuhr, oder es muß ein anderer Zeitpunkt gemeint sein. Nach seinem (ersten) römischen Aufenthalte nämlich reiste er nach Spanien ab; ob er von da nochmals in jene Gegenden kam, wissen wir nicht.
Also wir sehen den Apostel von allen seinen Gefährten allein gelassen. Demas hat ihn verlassen, Crescens ist nach Galatien, Titus nach Dalmatien gegangen, Erastus weilt in Korinth, den Trophimus hat er krank in Milet zurückgelassen.
21. Beeile dich, noch vor dem Winter zu kommen. Es grüßt dich Eubulus, Pudens,Linus und Claudia.
Von diesem Linus erzählen Einige, er sei der Nachfolger des Petrus im Episkopat der römischen Kirche gewesen.
„Linus und Claudia.“ Siehst du, wie auch die Frauen von warmer Begeisterung für den Glauben erfüllt waren, z. B. die Priscilla, hier die Claudia! Beide waren S. 396 schon gekreuzigt und zum Kampfe gerüstet. Und warum gedenkt der Apostel bei der so großen Anzahl der Gläubigen gerade dieser Frauen? Offenbar deßhalb, weil sie in ihrer Gesinnung bereits von den irdischen Dingen losgeschält waren, weil sie ein besonders leuchtendes Beispiel gaben. Auf diesem Gebiete kann man dem Weibe als solchem keine Schranken setzen. Auch Das war ja ein Werk der göttlichen Gnade, daß dem Weibe nur auf weltlichem Gebiete eine Schranke gesetzt ist, oder vielmehr nicht einmal auf diesem Gebiete. Denn das Weib hat keinen geringen Antheil am sozialen Leben erhalten: die Sorge für das Hauswesen. Ohne dieses aber kann auch das Staatswesen nicht bestehen. Denn wenn Verwirrung und Unordnung im Hause herrschen würde, dann müßte jeder Staatsbürger zu Hause sitzen, und mit dem politischen Leben würde es schlecht bestellt sein. So spielt das Weib weder in weltlichen noch in geistigen Dingen eine unbedeutendere Rolle als der Mann. Das Weib ist im Stande, tausendmal zu sterben, wenn es sein muß. Viele haben auch schon den Martertod erlitten. Sie kann die Keuschheit bewahren und zwar viel besser als der Mann, da die Gluth der Sinnlichkeit sie nicht so sehr belästigt; sie kann Ehrbarkeit, Sittsamkeit und Heiligkeit zur Schau tragen, „ohne welche Niemand den Herrn schauen wird,“7 dann Verachtung des Geldes, wenn sie will, kurz, alle andern Tugenden.
„Beeile dich, daß du noch vor dem Winter kommst!“ Wie sehr drängt der Apostel! Und nirgends spricht er von der betrübenden Zukunft. Er sagt nicht: „Bevor ich sterbe,“ um ihn nicht zu betrüben, sondern: „vor dem Winter,“ damit er sich nicht aufhalten lasse.
„Es grüßt dich Eubulus, Pudens, Linus und Claudia und alle Brüder.“ Die Ersteren S. 397 nennt er ausdrücklich. Siehst du, daß sie den wärmsten Eifer hatten?
22. Der Herr Jesus Christus sei mit deinem Geiste.
Einen besseren Segenswunsch kann es nicht geben. Sei nicht betrübt über meinen Hingang, will der Apostel sagen; der Herr ist mit dir! Oder vielmehr nicht „mit dir“, sondern mit „deinem Geiste“. Zweifach ist die Hilfe: die Gnade des (den Gläubigen mitgetheilten heiligen) Geistes und des sie unterstützenden Gottes.8 Auf andere Weise kann ja Gott nicht mit uns sein ausser auf Grund der Geistes-Gnade; denn wenn wir von ihr verlassen sind, wie könnte dann Gott mit uns sein?
„Die Gnade sei mit uns! Amen. Auch für sich selber hat der Apostel schließlich noch einen Segenswunsch. Er will sagen: Mögen wir immer Gott wohlgefällig sein! Mögen wir immer die Gnade besitzen in unserem heiligen Berufe (μετὰ τοῦ χαρίσματος); denn ist jene vorhanden, so wird uns dieser nicht beschwerlich fallen. Gleichwie Derjenige, der das Angesicht des Königs schaut und im Genusse seiner Gnade lebt, kein Leid empfindet, so werden auch wir keine Bitterkeit empfinden, selbst wenn uns die Freunde verlassen, selbst wenn uns ein Unglück trifft, so lange die göttliche Gnade da ist und eine Mauer um uns baut.
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Apostelg. 12, 12. ↩
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Ebend. 3, 12. ↩
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II. Kor. 12, 7. ↩
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D. h. die von den Aposteln gepredigten Heilsthatsachen wurden durch deren Wunderzeichen bewiesen, und trotzdem erscheinen sie wegen einzelner Schwächen als bloße Menschen. ↩
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II. Kor. 4, 7. ↩
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Phil. 2, 27. ↩
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Hebr. 12, 14. ↩
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(Ἡ βοήθεια) τῆς χάριτος τοῦ πνεῦματος καὶ τοῦ θεοῦ βοηθοῦντος αὐτῇ; auch Arnoldi übersetzt: „die Gnade des heiligen Geistes,“ was im Hinblick auf Chrysost. I. Rede auf Pfingsten (Bibl. d. K.-V. III. Bd. S. 217) gewiß als entsprechend erscheint. ↩