I.
11. Denn es ist die heilbringende Gnade Gottes allen Menschen erschienen, 12. welche uns lehrt, daß wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Gelüste verläugnend enthaltsam, gerecht und gottselig leben in dieser Welt, 13. in Erwartung der seligen Hoffnung und der Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus, 14. Welcher sich selbst zum Sühnopfer hingegeben für uns, damit er uns von aller S. 468 Ungesetzlichkeit erlöse und sich ein Volk heilige, das ihm ganz eigen sei und für gute Werke Eifer habe.
I. Der Apostel hatte von den Dienstboten einen hohen Grad von Tugend verlangt. Denn ein hoher Grad derselben ist es, wenn man der Lehre unseres göttlichen Heiland des in allen Dingen Ehre macht und der Herrschaft keinerlei Handhabe zu einem Ärgernisse gibt, nicht einmal in der geringsten Sache. Nun fügt er auch den richtigen Grund an, der eine solche Aufführung der Dienstboten verlangt. Welcher ist es? „Denn es ist die heilbringende Gnade Gottes erschienen.“ Wie sollten Diejenigen, will der Apostel sagen, welche Gott zum Lehrer haben, nicht selbstverständlich sich so betragen, wie ich eben geschildert, nachdem sie Befreiung von zahllosen Sünden gefunden? Denn ihr wißt, daß unter Anderem Nichts einen so beschämenden und demüthigenden Eindruck auf die Seelen macht wie das Bewußtsein, daß sie mit einer ungeheuren Sündenschuld beladen doch keine Strafe, sondern eine hohe Seligkeit zu erwarten hat. Denn sage mir, wenn ein Herr seinen Diener auf zahllosen Fehltritten ertappen würden aber er würde ihn nicht mit Peitschenhieben traktiren, sondern ihm für die früheren Fehler Verzeihung gewähren, bloß für zukünftige Rechenschaft fordern und verlangen, daß er sich davor hüte, um nicht in dieselben zu verfallen, und er würde ihn dann mit großen Geschenken belohnen: welcher Mensch müßte angesichts so gnädiger Behandlung keine Beschämung fühlen? Aber man glaube nicht, daß die göttliche Gnade bei der Verzeihung der begangenen Sünden stehen bleibt, sondern sie schützt uns auch für die Zukunft vor Sünden. Auch das ist ja eine Wirkung der Gnade. Wenn sie sich bloß darauf beschränken würden Sünder nicht zu strafen, so wäre das keine Gnade, sondern ein Anlaß zu sittlichem Verderbniß.
S. 469 Es ist die heilbringende Gnade Gottes allen Menschen erschienen, welche uns lehrt, daß wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Gelüste verläugnend enthaltsam, gerecht und gottselig leben in dieser Welt, in Erwartung der seligen Hoffnung und der Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus.
Siehe, wie der Apostel Belohnung und Tugend zusammen stellt! Auch Das ist eine Wirkung der Gnade, daß sie vom Irdischen abzieht und zum Himmel hinlenkt. Es ist hier auf eine doppelte „Erscheinung“ hingewiesen. Es gibt nämlich in der That ihrer zwei: die erste ist die der Gnade, die zweite die der Vergeltung und Gerechtigkeit.
Die Gottlosigkeit und die weltlichen Gelüste verläugnend.
Siehe hier die nothwendige Voraussetzung der Tugend! Nicht vom „Meiden“ spricht der Apostel, sondern vom „Verläugnen“. Das Verläugnen ist ein Beweis von entschiedener Abwendung, von besonderem Widerwillen und großem Abscheu. Mit derselben Gemüthsverfassung und demselben Eifer, womit sie einst von den Götzenbildern sich abwandten, sollen sie sich auch von der Sünde selber und den irdischen Gelüsten abwenden. Auch das sind Götzenbilder, die Weltlust und der Geiz, und auch mit Bezug auf sie spricht der Apostel von einem Götzendienst. Und Alles, was bloß für das irdische Dasein Nutzen bringt, ist Weltlust; Alles, was mit dem irdischen Dasein endet, ist Weltlust. Hängen wir also solchen Dingen nicht nach! Christus ist gekommen, damit wir die Gottlosigkeit verläugnen. Unter Gottlosigkeit sind die falschen Lehren, die weltlichen Lüste und der schlechte Lebenswandel zu verstehen.
S. 470 Daß wir enthaltsam, gerecht und gottselig leben in dieser Welt.