I.
5. Deßhalb habe ich dich in Kreta zurückgelassen, damit du das Fehlende in Ordnung bringst und in allen Städten Priester einsetzest, wie ich dich angewiesen habe: 6. Wenn Einer unbescholten ist, eines Weibes Mann, gläubige Kinder hat, die nicht im Ruf der Schwelgerei stehen oder ungehorsam sind.
I. Den Männern der alten Zeit verlief das ganze Leben in Thätigkeit und Kampf; bei uns aber ist es nicht so, sondern da ist lauter lässiges und träges Wesen. Jene waren sich nämlich bewußt, daß sie dazu auf der Welt seien, um nach dem Willen ihres Schöpfers zu wirken; bei uns aber ist es, als ob wir zum Essen, Trinken und Wohlleben auf der Welt wären, so wenig kümmern wir uns um die geistigen Dinge. Ich spreche nicht bloß von den Aposteln, sondern auch von ihren Nachfolgern. Du siehst also, wie sie den Erdkreis durcheilen, wie sie dieses Wandern gleichsam als Lebensaufgabe auffassen und beständig sich in S. 425 der Fremde aufhalten als Solche, die auf Erden keinen festen Wohnsitz haben.
Höre also auf den Apostel, wie er spricht:
Darum habe ich dich in Kreta zurückgelassen.
Wie ein einziges Haus hatten sie die Erde unter sich vertheilt und verrichteten so ihren Dienst allseitig, trugen Sorge für Alle in der Welt; der eine nahm diesen, der andere jenen Landstrich in Beschlag.
Deßhalb habe ich dich in Kreta zurückgelassen, damit du das Fehlende in Ordnung bringst.
Er spricht vorderhand nicht im Imperativ, sondern sagt bloß: „damit du in Ordnung bringst.“ Siehst du, wie rein seine Seele von jedem Neide ist, wie er überall nur das Beste seiner Jünger sucht, wie er nicht ängstlich darnach frägt, ob Etwas durch ihn selbst oder durch einen Andern geschehe? Freilich wo es gefährlich und schwierig herging, da war er persönlich da und brachte Alles in Ordnung; was aber eher Ehre brachte und Lob eintrug. Das überlaßt er dem Jünger, nämlich die Weihung der Bischöfe und all das Andere, was einer Ordnung oder, wie man auch sagen könnte, einer weiteren Vollendung bedürftig war. Wie meinst du, Paulus, sprich! Titus soll dein eigenes Werk „in Ordnung bringen“? Und Das hältst du für keine Entwürdigung, Das wird dir keine Schande bringen? Keineswegs, erwidert er. Ich habe nur das gemeinsame Beste im Auge; ob es nun durch mich oder durch jemand Anderen erreicht wird, Das ist mir ganz gleichgiltig. So muß ein Kirchenvorsteher gesinnt sein: er hat nicht seine eigene Ehre zu suchen, sondern den Nutzen der Gesammtheit.
S. 426 Und damit du in allen Städten Priester einsetzest.
Unter den Priestern versteht er hier die Bischöfe, wie ich anderwärts schon bemerkte.
„Wie ich dich angewiesen habe. Wenn Einer unbescholten … In allen Städten.“ Er wollte nicht, daß die ganze Insel einem Einzigen anvertraut werde, sondern Jeder sollte ein eigenes Gebiet haben für seine sorgenvolle Thätigkeit; denn auf solche Weise sollte dem Titus selber seine Mühe erleichtert werden, sowie andererseits die Gläubigen einer sorgfältigeren Pastorirung genoßen, wenn der Lehrer nicht als Bischof einer großen Anzahl von Gemeinden fortwährend herumzureisen brauchte, sondern sich einer einzigen widmen und diese recht schön herrichten konnte.
Wenn Einer unbescholten ist, eines Weibes Mann, gläubige Kinder hat, die nicht im Rufe der Schwelgerei stehen oder ungehorsam sind.
Warum spricht der Apostel auch von solchen Männern? Er will den Häretikern den Mund stopfen, welche gegen die Ehe losziehen, indem er zeigt, daß diese nichts Sündhaftes ist, sondern im Gegentheil etwas so Ehrenvolles, daß ein Verheirateter sogar den heiligen Stuhl (τὸν ἅγιον θρόνον) einnehmen kann. Zugleich aber tritt er gegen Lüstlinge auf und gestattet nicht, daß ein zum zweiten Mal Verheirateter diese Kirchenwürde erlange. Denn wer seinem verstorbenen Weibe keine Neigung bewahrt hat, wie könnte Der ein tüchtiger Kirchenvorstand werden? Welch übler Nachrede würde er sich nicht aussetzen. Denn ihr wißt alle recht gut, daß, wenn eine zweite eheliche Verbindung auch durch kein Gebot untersagt ist, sie dennoch allerlei mißgünstige Beurtheilungen hervorruft. Und da will S. 427 der Apostel, daß ein Kirchenfürst seinen Untergebenen keine Handhabe zu solchen Nachreden biete. Deßhalb sagt er: „Wenn Einer unbescholten ist,“ d. h. wenn sein Leben vorwurfsfrei ist, wenn Niemand seinen Lebenswandel tadeln kann. Höre, was Christus sagt: „Wenn das Licht, das in dir ist, Finsterniß ist, wie groß ist dann die Finsterniß?“1
Wenn er Kinder hat, die nicht im Rufe der Schwelgerei stehen oder ungehorsam sind.
Laßt uns sehen, warum der Apostel auch in Betreff der Kinder so strenge Vorschriften gibt! Wer nämlich für seine eigenen Kinder keinen Lehrer abgeben kann, wie könnte Der es für Andere? Wenn er nicht im Stande war, Diejenigen Ordnung zu lehren, die er von Anfang an bei sich hatte und bei sich erzog, über die er eine von den Gesetzen und von der Natur nicht beschränkte Gewalt besaß, wie könnte er die fremden Leute mit Erfolg pastoriren? Denn wäre die Trägheit des Vaters nicht groß, so hätte er Diejenigen, die von Anbeginn seiner Gewalt unterstellt waren, nicht zu schlechten Menschen werden lassen; denn es ist ganz und gar unmöglich, daß ein Mensch schlecht werde, der von Jugend auf eine sorgfältige Erziehung genießt und eifrig überwacht ist. Die Fehler sind ja nicht angeboren, so daß sie einer so sorgfältigen Erziehung zum Trotz sich entwickeln könnten. Wenn aber Jemand die Kindererziehung als etwas Sekundäres behandeln würde, indem er in erster Linie dem Gelderwerb huldigt, und wenn er auf jene zwar einen Eifer verwenden würde, aber keinen so großen wie auf den Geldgewinn, so wäre er auch in solchem Falle des bischöflichen Amtes unwürdig. Denn wenn er da, wo doch der Naturtrieb eine zwingende Gewalt ausübt, so wenig Liebe zeigte oder so unverständig war, daß er mehr an sein S. 428 Geld dachte als an seine Kinder, wie könnte man einen Solchen auf den bischöflichen Stuhl setzen und zu einer solchen Würde befördern? War er zu unfähig, seine Kinder richtig zu erziehen, so verdient er gar sehr den Vorwurf der Beschränktheit; war er zu nachlässig, dann muß man ihn wegen Mangels väterlicher Liebe auf’s stärkste tadeln. Also wer seine eigenen Kinder vernachlässigt, wird sich unmöglich um fremde Leute besonders annehmen.
Der Apostel spricht ferner nicht einfach von Schwelgerei, der man nicht huldigen soll, sondern man darf nicht einmal den Vorwurf verdienen, als thäte man es, muß sogar den Schein derselben meiden.
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Matth. 6, 23. ↩