II.
Ein großes Gut ist die Versammlung; denn sie macht die Liebe stärker, und aus ihr entspringen alle Güter, und S. 298 es gibt kein Gut, das nicht aus der Liebe stammte; diese wollen wir daher unter uns walten lassen, denn „die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.“1 Wir brauchen da nicht zu arbeiten, nicht zu schwitzen. wenn wir einander lieben; sie ist ein Weg, der von selbst zur Tugend führt. Denn wie Jemand auf der Heerstraße, sobald er den Anfang derselben gefunden hat, von ihr selbst geführt wird und keines Wegweisers bedarf: so ist’s auch bei der Liebe; erfasse nun den Anfang, und alsbald wird sie dich führen und leiten, „denn die Liebe,“ heißt es, „ist geduldig, ist gütig, denkt nichts Arges.“2 Wie Jemand bei sich erwägt, wie er gegen sich selbst gesinnt ist, also soll er auch gegen den Nächsten gestimmt sein. Niemand beneidet sich selbst, ein Jeder wünscht sich selbst alles Gute, Allen zieht er sich selbst vor, und Alles will er für sich selbst thun. Wenn wir daher auch gegen Andere also gesinnt sind, dann ist alles Böse aufgelöst, dann gibt es keine Feindschaften mehr und keinen Geiz. Denn wer sollte für sich nach einem größeren Besitzstande verlangen? Niemand, vielmehr dürfte in Allem das Gegentheil stattfinden. Wollen wir daher Alles gemeinsam besitzen, und nicht aufhören, uns selbst zu mäßigen, und wenn wir Das thun, dann wird das Andenken an erlittene Unbilden keinen Platz finden; denn wer wollte wohl gegen sich selbst empfangener Kränkungen eingedenk bleiben? Wer wollte wohl sich selber zürnen? Haben wir nicht am meisten vor Allen mit uns selbst Nachsicht? Wenn wir auch gegen den Nächsten also gesinnt sind, dann werden wir nie Rachegedanken haben. Und wie ist es möglich, sagt man, daß man den Nächsten so liebe, wie ein Jeder sich selbst liebt? Wenn Andere Das nicht gethan haben, so urtheilst du richtig, daß dieß unmöglich sei; haben sie es aber gethan, so ist klar, daß es von uns unserer S. 299 Sinnlichkeit wegen nicht geschieht. Übrigens befiehlt Christus nichts Unmögliches, da ja Viele auch noch mehr geleistet haben, als seine Gebote verlangten. Wer hat denn Dieses gethan? Paulus, Petrus und die ganze Schaar der Heiligen. Aber wenn ich sage, daß sie ihre Nächsten geliebt haben, so spreche ich nichts Großes aus: sie haben ihre Feinde so geliebt, wie kaum Jemand Die lieben würde, welche mit ihm eine Seele sind. Denn wer würde wohl von euch für Diejenigen, welche mit ihm eine Seele sind, in die Hölle gehen wollen, da er ins Himmelreich eingehen soll? Keiner; aber Paulus wollte Dieß für seine Feinde, die ihn gesteinigt, die ihn gegeißelt haben. Welche Verzeihung wird uns zu Theil werden, welche Entschuldigung, wenn wir nicht einmal den winzigsten Theil der Liebe, welche Paulus gegen seine Feinde gezeigt hat, gegen unsere Freunde an den Tag legen? Und vor Diesem (Paulus) wollte der selige Moses für seine Feinde, die ihn mit Steinen verfolgt hatten, aus dem Buche Gottes ausgetilgt werden.3 Und als David sah, daß Diejenigen, welche gegen ihn standen, getödtet wurden, sagte er: „Ich, der Hirt, habe gesündigt; was haben aber Diese gethan?“4 Und als Saul in seine Hände gefallen, wollte er ihn nicht tödten, sondern schützte ihn, und zwar, als er selbst in Gefahren war. Wenn Das im Alten Testamente geschah, welche Verzeihung werden wir finden, falls wir, die wir im Neuen Bunde leben, nicht einmal zu gleichem Maße mit Jenen gelangen? Denn „wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr in’s Himmelreich nicht eingehen.“5 Wenn wir nun weniger als Jene haben, wie werden wir eingehen? „Liebet,“ heißt es, „euere Feinde, und ihr werdet ähnlich euerem Vater sein, der im Himmel ist.“6 Liebe daher den Feind; denn du S. 300 erweisest dadurch nicht ihm, sondern dir selbst eine Wohlthat. Wie denn? Wenn du Das thust, wirst du Gott ähnlich. Wenn Jener von dir geliebt wird, hat er keinen großen Gewinn; denn er wird von einem Mitknechte geliebt; wenn aber du den Mitknecht liebst, ziehst du einen großen Vortheil; denn du wirst Gott ähnlich. Siehst du, daß du nicht Jenem zu Gunsten handelst, sondern dir selbst? Denn den Preis stellt er nicht für Jenen, sondern für dich hin. Wie aber, heißt es, wenn er böse ist? Um so größer ist der Lohn, und seiner Verkommenheit wegen mußt du ihm Dank wissen, wenn er auch unzählige Wohlthaten empfinge; denn wenn er nicht sehr böse wäre, würde der Lohn nicht sehr groß werden, so daß die Ursache, ihn nicht zu lieben, nämlich die Einrede, er sei böse, der Grund ist, ihn recht zu lieben. Nimm den Gegner weg, und du raubst dir die Gelegenheit, Kronen zu erwerben. Siehst du nicht, wie die Athleten Säcke mit Sand füllen und also kämpfen? Du aber brauchst diese Übung nicht vorzunehmen; das Leben ist voll von solchen Dingen, die dich üben und stark machen. Siehst du nicht, daß auch die Bäume, je mehr sie von den Winden angebraust werden, um so stärker und fester werden? Wenn wir daher auch geduldig sind, werden wir stark sein; „denn der Mann,“ heißt es, „welcher geduldig ist, den leitet viel Verstand; wer aber ungeduldig ist, der ist arg thöricht.“7 Siehst du, wie groß dort das Lob, und wie groß hier der Tadel ist? Arg thöricht heißt so viel, wie sehr* thöricht. Seien wir daher nicht ungeduldig gegen einander; denn Das kommt nicht aus der Feindschaft, sondern weil wir kleinmüthigen Geistes sind. Ist dieser aber stark, so wird er Alles leicht ertragen, und Nichts wird ihn zu versenken im Stande sein, sondern er wird in den ruhigen Hafen S. 301 einlaufen, was uns Allen zu Theil werden möge durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christi, welchem mit dem Vater und dem heiligen Geiste sei Ruhm, Macht und Ehre jetzt und alle Zeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. S. 302