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Hier scheint er mir noch auf etwas Anderes hinzudeuten; denn wahrscheinlich hatten nicht Viele die Gnadengaben, und diese schienen von ihnen gewichen zu sein, weil sie selbst im Eifer nachgelassen hatten. Um sie nun auch darüber zu trösten und nicht ganz fallen zu lassen, erklärt er das Ganze für ein Werk des göttlichen Willens. Gott weiß, will er sagen, was einem Jeden zuträglich ist, und demgemäß vertheilt er seine Gnade. Ebenso macht er es auch im Briefe an die Korinther, da er schreibt: „Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen am Leibe, wie er gewollt hat.“1 Und wieder: „Jedem aber wird gegeben die Offenbarung des Geistes zum Frommen.“2 Er zeigt, daß die Gnadengabe nach dem Willen des Vaters verliehen werde. Oft war auch ein unreines und träges Leben die Schuld, daß Viele keine Gnadengabe empfingen; manchmal wurde auch Denen keine zu Theil, welche ein schönes und reines Leben führten. Warum? Damit sie nicht stolz, nicht eingebildet, nicht lässiger würden, und damit die Aufgeblasenheit nicht die Oberhand gewänne. Denn S. 60 wenn auch ohne Gnadengabe das alleinige Bewußtsein eines unbefleckten Lebens aufblähen kann, um wie viel mehr kann so Etwas stattfinden, wenn auch noch die Gnade dazu kommt. Daher wurde sie auch mehr den Demüthigen und Einfältigen gegeben, ja meistens den Einfältigen; denn „in Einfalt,“ heißt es, „und mit Freude des Herzens.“3 So empfingen sie von Paulus eine größere Anregung und, falls sie lässiger waren, einen heilsamen Schmerz. Denn der Demüthige, und der von sich selber keine hohe Einbildung hat, gewinnt größeren Eifer, sobald ihm eine Gnadengabe zu Theil wird, da er sie unverdient empfängt und nicht daran denkt, daß er derselben würdig sei. Wer aber etwas Erhebliches gethan zu haben vermeint, glaubt, die Sache gebühre ihm, und bläht sich auf. Darum übt Gott hierin eine heilsame Verwaltung. Dasselbe kann man auch in der Kirche wahrnehmen. Denn der Eine besitzt die Lehrgabe, der Andere ist nicht im Stande, auch nur den Mund aufzuthun. Niemand versinke darum in Trauer, denn „Jedem wird gegeben die Offenbarung des Geistes zum Frommen.“4 Denn wenn schon ein Hausherr weiß. wem er irgend Etwas anvertraut, um wie viel mehr Gott, der den Sinn der Menschen kennt und Alles anschaut, ehevor es geschieht. Nur Eines ist der Trauer werth, nämlich die Sünde, sonst aber Nichts. Sage nicht: Warum habe ich keine Reichthümer? Oder: Wenn ich solche hatte, würde ich sie unter die Armen vertheilen. Du weißt nicht, ob du, wenn du sie hättest, nicht noch habsüchtiger sein würdest. Jetzt zwar sprichst du so; solltest du aber die Probe bestehen, dürftest du anders gesinnt sein. Wenn wir gesättiget sind, glauben wir, leicht fasten zu können; aber nach Verlauf einer ganz kurzen Zeit beschleichen uns andere Gedanken. Wiederum, wenn wir frei sind von Trunkenheit, glauben wir diese Leidenschaft beherrschen zu können; wenn sie uns aber überwältiget hat, ist es anders. Sage nicht: Warum habe ich S. 61 nicht die Lehrgabe empfangen? Oder: Wenn ich sie hätte, würde ich Unzählige erbauen. Du weißt nicht, wenn du sie hättest, ob sie dir nicht zum Gerichte sein würde, ob nicht Neid, ob nicht Trägheit dich dahin bringen würden, das Talent zu vergraben. Nun aber bist du von all Diesem frei und mußt, wenn du auch das Vollmaaß nicht beibringen kannst, darüber nicht Rechenschaft geben; widrigenfalls würde dich eine ungeheuere Schuldenlast drücken. Übrigens bist du auch jetzt nicht ohne Gnadengabe. Zeige im Kleinen, wie du dich verhalten würdest, wenn du jene besäßest. „Denn wenn ihr,“ heißt es, „im Kleinen nicht treu waret, wie wird euch Jemand Großes übergeben?“5 Erweise dich wie jene Wittwe; diese hatte nämlich nur zwei Obole, und Alles, was sie besaß, warf sie in den Opferkasten. - Du suchst Reichthümer? Zeige, daß du das Wenige verachtest, damit ich dir Vieles anvertrauen kann. Wenn du aber im Kleinen diese Verachtung nicht zeigst, so wirst du viel weniger im Großen es thun. Zeige ferner den pflichtgemäßen Gebrauch deiner Worte dadurch, daß du Aufmunterung und guten Rath ertheilest! Du kannst nicht als Redner öffentlich auftreten? Bist du nicht im Besitze reicher Kenntnisse? Nun, so weißt du doch, was die meisten Menschen wissen. Du hast einen Sohn, einen Nachbar, einen Freund, einen Bruder, du hast Hausgenossen: wenn du nun auch öffentlich in der Versammlung keinen großen Vortrag zu halten vermagst, so kannst du Diesen doch im Privatkreise manch heilsame Ermahnung ertheilen. Hier brauchst du keine Redekunst zu entfalten, auch dich nicht weit zu verbreiten; an Diesen beweise deine treue Sorgfalt, die du entwickeln würdest, wäre dir die Gabe der Rede verliehen. Bist du aber im Kleinen nicht eifrig, wie soll ich dir im Großen vertrauen? Weil Dieß aber ein Jeder vermag, so höre, wie Paulus auch den Laien Solches befiehlt! „Erbauet,“ sagt er, „Einer den Andern, so wie ihr auch thut;“6 S. 62 und: „So tröstet denn einander mit diesen Worten!“7 Gott weiß, wie er einem Jeden zutheilt. Bist du besser als Moses? Höre, wie er zagend klagt: „Kann ich denn,“ sagt er, „sie tragen, daß du zu mir sagst: Trage sie, wie eine Amme ihre Kindlein zu tragen pflegt?“8 Was that aber Gott? Er nahm von seinem Geiste und gab den Andern, wodurch er zeigte, daß die Gnadengabe, als er sie selber trug, nicht aus ihm, sondern aus dem heiligen Geiste stammte. Hättest du die Gnadengabe gehabt, wärest du vielleicht oft hochmüthig geworden und oft auf böse Wege gerathen. Fragen wir nicht: Wozu Das? Warum Dieses? Wenn Gott waltet, dürfen wir ihn nicht zur Rechenschaft ziehen; Das wäre der größte Frevel, der schrecklichste Wahnsinn. Wir sind Knechte, und zwar Knechte, die weit unter dem Herrn stehen, und die wir nicht einmal begreifen, was uns zunächst liegt. Grübeln wir also nicht über Gottes Rathschluß, sondern wir sollen, was er uns verliehen, treu bewahren, und wäre es auch eine geringe, ja die allergeringste Gabe, und wir werden gewiß glücklich sein, um so mehr, da keine der göttlichen Gaben gering ist. Schmerzt es dich, daß du nicht im Besitze der Lehrgabe bist? Sage mir aber: Was scheint dir größer zu sein, die Lehrgabe oder die Gabe der Heilungen? Sicherlich diese. Ist aber in deinen Augen die Macht, Blinde sehend zu machen und Todte zu erwecken, nicht noch höher als die Kraft, Krankheiten zu vertreiben? Aber sage mir nun: Ist es nicht noch mehr, Dieß durch Schatten und Schweißtücher als durch den Gebrauch des Wortes zu thun? Willst du nun, sprich es nur aus, durch Schatten und Schweißtücher Todte erwecken oder die Lehrgabe besitzen? Ich möchte, wirst du sicherlich sagen, durch Schatten und Schweißtücher Todte erwecken. S. 63