II.
Siehst du, daß Dieß von seiner Menschheit gesagt ist? Sage mir, hat er nicht zum Vater gebetet, daß er ihn vom S. 140 Tode erlöse, und war er nicht darum traurig, indem er sprach: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“1 Nirgends aber betete er zum Vater in Bezug auf die Auferstehung, sondern gerade das Gegentheil thut er in den Worten: „Löset diesen Tempel, so will ich ihn in drei Tagen wieder aufrichten!“2 Und: „Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich gebe es von mir selbst hin.“3 Wie verhält es sich nun? Warum betete er? Und wiederum sagt er: „Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und des Menschen Sohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden ihn zum Tode verdammen; und sie werden ihn den Heiden ausliefern, daß sie ihn verspotten, geißeln und kreuzigen, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“4 Und er sagte nicht: Der Vater wird mich auferwecken. Wie hätte er nun darum beten können? Aber wofür betete er? Für Diejenigen, die an ihn glaubten. Der Sinn der Worte ist dieser: Er findet leicht Erhörung. Denn da sie in Betreff seiner noch nicht die Meinung hatten, die sie hätten haben sollen, sagt er, Derselbe sei erhört worden, wie er auch selber, seine Jünger tröstend, spricht: „Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch ja freuen, daß ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich.“5 Wie kommt es aber, daß er nicht sich selbst verherrlichte, da er doch sich selbst entäussert, sich hingeopfert hat? „Denn er hat sich selbst,“ heißt es, „hingegeben für unsere Sünden;“6 und wieder: „Der sich selbst zum Lösegeld für Alle hingegeben hat.“7 Wie verhält es sich also? Siehst du, daß er seiner menschlichen Natur wegen von sich Niedriges aussagt? So heißt es auch hier, daß er, obgleich er S. 141 Sohn war, wegen seiner Ehrerbietigkeit erhört worden sei. Er will nämlich zeigen, daß Dieß mehr sein Werk als die Frucht der göttlichen Gnade sei. So groß, sagt er, war seine Ehrerbietigkeit, daß darum Gott sich von ihm erbitten ließ. „Er hat gelernt,“ heißt es, „Gott zu gehorsamen.“ Hier zeigt er wieder den großen Gewinn, den die Leiden bringen. „Und zur Vollendung gebracht, ist er Allen, die ihm gehorsam sind, Urheber der ewigen Seligkeit geworden.“ Wenn also er, der Sohn, als Frucht der Leiden den Gehorsam gewann, um so viel mehr wird Dieß mit uns der Fall sein! Siehst du, wie Vieles er über den Gehorsam spricht, um sie dafür zu gewinnen? Denn sie scheinen mir beständig die Zügel abzustreifen und seinen Worten nicht zu folgen; denn Das deutet er an, indem er sagt: „Ihr seid träge geworden im Anhören.“ Aus Dem, was er gelitten, lernte er, ununterbrochen Gott zu gehorchen. „Und zur Vollendung gebracht;“ durch Leiden, will er sagen. Das ist also die Vollendung, und dadurch muß man zur Vollendung gelangen. Denn nicht nur er selbst wurde gerettet, sondern auch den Andern wurde Dieß zur Fülle des Heiles: „Denn zur Vollendung gebracht wurde er Allen, die ihm gehorsam sind, Urheber der ewigen Seligkeit; genannt von Gott,“ heißt es, „Hoherpriester nach der Weise Melchisedechs.“
11. Hievon haben wir große Dinge zu sagen, die schwer zu erklären sind.
Indem er die Rede auf die Verschiedenheit des Priesterthums lenken will, macht er ihnen zuerst einen Vorwurf, indem er zeigt, daß eine solche Herablassung Milch sei; und weil sie noch Kinder waren, ist seine Rede in Betreff der Menschheit in einem mehr unerhabenen Tone gehalten, und er spricht von ihm wie von irgend einem Gerechten. Und siehe: weder hat er gänzlich geschwiegen, noch sich ganz ausgesprochen; das Eine, um ihre Erkenntniß und ihr S. 142 sittliches Streben zu vervollkommnen und sie der großen Heilswahrheiten nicht zu berauben; das Andere aber, um ihren Sinn nicht zu verwirren. „Hievon haben wir große Dinge zu sagen, die schwer zu erklären sind, weil ihr schwach geworden seid zum Vernehmen.“ Da Jene nicht hören, fällt die Erklärung schwer. Denn hat es Jemand mit Menschen zu thun, welche dem Unterrichte nicht folgen und den Vortrag nicht verstehen, so kann er ihnen die Sache nicht schön erklären. Aber vielleicht möchte Jemand von euch, die ihr hier versammelt stehet, es recht sonderbar finden (ἰλιγγι) und es für einen Verlust halten, daß er durch die Hebräer gehindert wird, eine mehr vollkommene Rede zu hören. Aber vielleicht finden sich auch hier mit wenigen Ausnahmen, glaube ich, Viele dieser Art, so daß auch über euch Dasselbe gesagt werden kann; jedoch der Wenigen wegen will ich sprechen. Hat er also geschwiegen oder im Folgenden die Rede wieder aufgenommen und Dasselbe gethan, was im Briefe an die Römer geschah? Denn auch dort ließ er die Lösung folgen, nachdem er die Widersacher zum Schweigen gebracht und gesagt hatte: „O Mensch, wer bist du, daß du mit Gott rechten willst?“8 Ich aber bin der Ansicht, daß er weder ganz geschwiegen noch sich ganz ausgesprochen habe, um die Zuhörer in Spannung zu erhalten. Denn siehe, wie er, nachdem er sie ermahnt und gesagt hatte, daß in der Rede erhabene Dinge verborgen seien, mit dem Lobe Tadel verbindet! Denn Das ist der Weisheit des Paulus immerfort eigen, daß er das Bittere mit dem Angenehmen vermischt, wie er es auch im Briefe an die Galater macht, da er spricht: „Ihr liefet gut; wer hat euch aufgehalten?“9Und: Habt ihr umsonst so viel gelitten, wenn anders umsonst?“10 Und: „Ich habe das Vertrauen zu euch im Herrn.“11 So geschieht es auch hier: „Von euch aber S. 143 versehen wir uns Besseres, und daß ihr nahe dem Heile seid.“12 Paulus thut nun dieß Doppelte: weder erhebt er sie, noch läßt er sie fallen. Natürlich. Denn sind die Beispiele Anderer passend, den Zuhörer aufzurichten und seinen Eifer zu wecken, so ist der Lehre, wenn beim Lehrer selbst sich Beispiel und Aneiferung finden, der Eingang gesichert. Und Dieß zeigt er nun und gibt sie weder als ganz abgeurtheilt noch als unwiderbringlich in der Gewalt des Bösen auf, sondern sagt, daß sie zur Zeit einmal gut gewesen.
12. Denn die ihr Lehrer sein solltet der Zeit nach.
Er zeigt hier, daß sie vor langer Zeit gläubig geworden seien; er zeigt aber auch, daß sie Andere unterrichten sollten. Siehe also, wie er sich immer bemüht, die Rede auf den Hohenpriester zu lenken, aber auch immer damit zurückhält; denn höre, wie er beginnt: „Da wir einen so großen Priester haben, der die Himmel durchdrungen;“ und ohne sich über diese Größe selbst auszusprechen, sagt er wieder: „Denn jeder Hohepriester, aus den Menschen genommen, wird für die Menschen bestellt in ihren Anliegen bei Gott;“ und wieder: „So hat auch Christus nicht sich selbst verherrlicht, Hoherpriester zu werden.“ Und nachdem er wieder gesagt hat: „Du bist Priester auf ewig nach der Weise Melchisedechs,“ - schiebt er neuerdings auf mit den Worten: „Dieser hat in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen dargebracht.“