§ 6.
Vielleicht wirst Du sagen, wir hätten dies richtig ausgeführt, Du seist aber im Zweifel, weshalb der Bischof die göttliche Milde um Sündenvergebung für den Verstorbenen anflehe und um ein gleiches, lichtvolles Los mit den gottähnlichen Männern. Denn wenn jeder von der göttlichen Gerechtigkeit den Lohn für das erhält, was er im gegenwärtigen Leben Gutes oder Böses getan hat, der Verstorbene aber seine Taten in diesem Leben abgeschlossen hat, wie könnte ihm dann ein Gebet des Bischofs zu einem andern Los verhelfen, als er es in diesem Leben verdient hat?
Freilich weiß ich aus der Heiligen Schrift sehr wohl, daß jedem sein Los nach seinen Verdiensten zuteil wird. Denn sie spricht: Der Herr hat bei sich beschlossen, und jeder wird davontragen, was seinem Körper gebührt, je nachdem er ihn gebraucht hat, Gutes oder Böses. Die Fürbitten der Gerechten aber nützen auch in diesem Leben, erst recht nach dem Tode nur denen, die heilige Fürbitten verdienen, wie uns die wahre Überlieferung der Schrift lehrt. Hat etwa Saul von Samuel Hilfe erfahren? Oder hat dem hebräischen Volk die Fürbitte der Propheten etwas genützt? Wie wenn nämlich jemand, der sich die Augen ausgestochen hat, um Anteil am Sonnenlicht bitten wollte, wenn die Sonne gesunden Augen ihr Licht spendet, so würde sich jemand an eine eitle und unmögliche Hoffnung hängen, wenn er die Fürbitten der Heiligen anriefe, aber die ihrer Natur entsprechenden Handlungen austriebe, die göttlichen Gaben vernachlässigte und von den klarsten und wohltätigen Geboten Gottes abwiche.
Dies aber behaupte ich in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift: daß die Fürbitten der Heiligen in diesem Leben sehr nützlich sind, wenn jemand vor Verlangen nach den göttlichen Gaben brennt, auch in der rechten Verfassung zu ihrem Empfang ist, sich aber seiner Schwäche bewußt ist und einen heiligen Mann angeht, er möge ihm helfen und Gott für ihn bitten: So wird er den größten Nutzen von ihm haben; er wird nämlich die erbetenen göttlichen Gaben erlangen, da die göttliche Güte ihn aufnimmt und seine eigene gottesfürchtige Erkenntnis, die Ehrfurcht vor den Heiligen, das lobenswerte Verlangen nach den erbetenen heiligen Fürbitten und die entsprechende gottähnliche Verfassung ihm zu Hilfe kommen. Denn das ist durch göttliche Bestimmungen festgesetzt, daß die göttlichen Gaben denen, die des Empfangs würdig sind, nach der gottgeziemenden Ordnung von denen gespendet werden, denen die Austeilung übergeben ist. Wer diese heilige Ordnung verletzt und, von unseliger Überhebung verführt, sich des vertrauten Umgangs mit Gott für würdig hält und die Heiligen verachtet, wer Gottes unwürdige, unheilige Dinge erbittet und kein lebhaftes Verlangen nach göttlichen Dingen hat, wie es ihm entspräche, der wird durch sich selbst nicht erlangen, was er töricht erbittet.
Was unsere göttlichen Lehrer uns über das Gebet, das der Bischof über den Verstorbenen spricht, mitgeteilt haben, müssen wir nun darlegen.