§ 2.
Es bedarf hier vielleicht einer Entschuldigung, daß wir, nachdem unser berühmter Meister Hierotheus seine theologischen Grundlehren in übermenschlicher Weisheit kurz und bündig verfaßt hat, andere Abhandlungen und auch die vorliegende über göttliche Dinge geschrieben haben, als ob jene (des Hierotheus) nicht genügt hätte. Fürwahr, wenn jener Mann sich gewürdigt hätte, alle theologischen Traktate auszuarbeiten und wenn er in Einzelerörterungen den Hauptinhalt der ganzen Offenbarungslehre durchgenommen hätte, so wären wir nicht so weit in der Torheit oder Verkehrtheit gegangen, um zu glauben, daß wir erleuchteter und göttlicher als er den Worten der Offenbarung nahezukommen vermöchten, oder um dasselbe unnötigerweise zweimal zu sagen und bedachtlos zu schwätzen und dazu noch einem Lehrer und Freund Unrecht anzutun, sowie uns selbst ins Unrecht zu setzen. Würden wir uns ja widerrechtlich seine herrliche Lehre und Erklärung aneignen, nachdem wir doch nächst dem göttlichen Paulus durch seine Unterweisungen gebildet worden sind. Nun hat aber jener Meister, die göttlichen Geheimnisse in echter Reife darlegend, komprehensive Definitionen, die in einem Satze vieles zusammenfassen, für uns aufgestellt, soweit sie uns und allen, welche gleich uns Leh- S. 52 rer von Neophyten sind,1 angepaßt erscheinen. Und dazu gab er den Auftrag, mit der uns angemessenen Rede die gedrängten und in eins gefaßten Konklusionen des überaus geistesmächtigen Mannes zu entfalten und zu distinguieren. Oft hast auch du uns dazu ermuntert und das Buch als überaus trefflich wieder zurückgesandt.2 Demnach weisen auch wir diesen Mann als einen Lehrer vollkommener und reifer Gedanken den Geistern zu, welche über der großen Menge stehen, gleichwie eine Art zweiter Heiliger Schrift, welche sofort an die von Gott inspirierten Bücher sich anschließt. Den Hörern dagegen, die auf unserer Stufe stehen, wollen wir in der uns entsprechenden Weise die göttlichen Wahrheiten überliefern. Denn wenn die feste Nahrung für die Vollkommenen ist, welche Vollkommenheit dürfte es dann erfordern, mit ihr auch andere zu speisen! Mit Fug und Recht sagen wir auch dieses, daß zur selbsteigenen Intuition der geistigen Offenbarungen und zur synoptischen Belehrung über dieselben die Kraft eines gereiften Alters erforderlich ist, daß dagegen die Wissenschaft und Erlernung der hierzu anleitenden Winke für Lehrer und Schüler, die auf einer tiefern Stufe des Heiligen stehen, sich schicken. Wir haben auch darauf mit sehr großer Sorgfalt geachtet, daß wir an das, was unser göttlicher Meister in deutlicher Aufklärung genau bestimmt hat, überhaupt nicht mehr Hand anlegten, um nicht tautologisch dasselbe Schriftwort, das er schon behandelte, noch einmal auf gleiche Weise zu erklären. Denn auch bei unsern gottergriffenen Hierarchen sogar, als auch wir, wie du weißt, und er selbst und viele von unsern heiligen Brüdern zur Schau jenes Leibes, in dem Ursprung des Lebens und Aufnahme Gottes ward, zusammengekommen waren — es war aber auch anwesend Jakobus, der Bruder des Herrn, und Petrus, die vornehmste S. 53 und ehrwürdigste Spitze der Theologen —, da gefiel es ihnen nach der Schau, daß alle Hierarchen, jeder nach seiner Fähigkeit, die unbegrenzt mächtige Güte der urgöttlichen Schwachheit preisen sollten —, da nun übertraf er (Hierotheus), wie du weißt, nach den „Theologen“ auftretend, die andern Hieromysten, indem er ganz weg war, ganz aus sich heraustraf und die Gemeinschaft mit dem, was er pries, innerlich erlebte, und von allen, die ihn hörten und sahen, kannten und nicht kannten, als ein Mann erachtet wurde, der gottergriffen, ein göttlicher Lobpreisender sei. Doch was soll ich dir von den Dingen reden, die dort in göttlicher Rede besprochen wurden? Denn wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, so weiß ich, daß ich oft von dir selbst einige Stücke jener gottbegeisterten Lobpreisungen gehört habe. So groß war dein Eifer, dem Göttlichen nicht nur flüchtig nachzugehen.3 S. 54
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διδάσκαλοι τῶν νεοτελῶν ψυχῶν. ↩
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Der Empfänger des „Buches“ des Meisters ist der „Sympresbyter“ Timotheus. ↩
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Die Art und Weise, wie sich Dionysius über seine Schriftstellerei rechtfertigt, trägt augenscheinlich persönliche Züge an sich. Aber das Wahre ist mit fingierten Umständen vermischt. Der gefeierte Meister und „Apostelschüler“ (DN. II 9; III 2) ist erfunden, die ganze Szene einer „Schau des gottaufnehmenden Leibes“ (sc. Marias) ist dem apokryphen transitus (dormitio) Mariae nachgebildet, die Anwesenheit von „Theologen“, d. i. neutestamentlichen Urhebern heiliger Schriften, ausgesprochen eines hl. Petrus und Jakobus, kann nur dem Zwecke dienen, die Entstehungszeit der Areopagitika in die apostolische Zeit zu rücken. Ganz verräterisch sieht der Übergang der vorausgehenden entschuldigenden Worte zu der schließlich geschilderten Episode aus. Formell geht die Konstruktion des Satzes in die Brüche über der übergroßen Parenthese; logisch klappt der Zusammenbang nicht, weil unmittelbar vorher von deutlichem Stellen des Meisters die Rede ist, die keiner Erklärung bedürfen, und unmittelbar die enthusiastische Schilderung des ekstatischen Hierotheus angeschlossen wird. — Unter unserer Voraussetzung, daß Dionysius ein Pseudonym ist, erklärt es sich ohne Mühe, warum er hier, von dem apokrypben transitus Mariae ausgehend, sich selbst und seinen Adressaten mitten in die Gesellschaft der Apostel, eines Petrus, Jakobus des Ältern und der andern „Theologen“ (Hagiographen) versetzt. Andere beabsichtigte Indizien jener Zeit sind durch die Areopagitika verstreut; am stärksten tritt unter ihnen der Brief an den Apostel Johannes hervor ep. 10, M. 47 ff. ↩