§ 1.
Wohlan denn, laßt uns das gütige und ewige Leben auch feiern als weise und als Weisheit-an-sich oder vielmehr als jegliche Weisheit begründend und über alle Weisheit und Einsicht erhaben. Denn Gott ist nicht bloß der Weisheit übervoll, so daß es für sein Erkennen kein Maß gibt, sondern er ist auch über jeden Gedanken, Verstand und alle Weisheit erhaben. Das hat auch der wahrhaft göttliche Mann, die uns und unserem Meister gemeinsame Sonne, auf übernatürliche Weise erkannt und deshalb gesagt: „Was Torheit Gottes ist, das ist weiser als die Menschen“,1 nicht bloß insofern, als alles menschliche Denken, an der Stetigkeit und Dauer der göttlichen vollkommensten Erkenntnisse gemessen, gewissermaßen Irrtum ist, sondern auch insofern, als es den Hagiographen eigentümlich ist, die privativen Prädikate von Gott im entgegengesetzten Sinne auszusagen.2 So nennen die heiligen Schriften das ganz und gar helle Licht unsichtbar und den Vielgefeierten und Vielnamigen unaussprechlich und namenlos und den allem Gegenwärtigen und aus allem Erkennbaren den Unerfaßbaren und Unaufspürbaren. Auf diese Weise nun, sagt S. 115 man, will auch der göttliche Apostel die „Torheit“ Gottes preisen, indem er das, was an ihr unvernünftig und unpassend scheint, zur unaussprechlichen und über alles Denken hinausgerückten Wahrheit erhebt. Aber schon andernorts habe ich es gesagt: Während wir das über uns Liegende in der uns entsprechenden Weise auffassen und, in die uns vertrauten Sinneswahrnehmungen verstrickt, auch die göttlichen Dinge mit denen aus unserm Bereiche vergleichen, verfallen wir in Irrtum, indem wir mit dem Maßstabe des Sichtbaren das göttliche und unaussprechliche Verhältnis zu erkennen suchen. Man muß ja wissen, daß unser Verstand zwar jene Kraft zu erkennen hat, durch welche er das Erkennbare schaut, daß dagegen jene Einigung die Natur des Verstandes überragt,3 durch welche er mit dem, was über ihm liegt, verbunden wird. Dieser Einigung gemäß ist das Göttliche zu erkennen, nicht unserer Kraft entsprechend, sondern nur möglich, insoweit wir mit unserem ganzen Ich ganz und gar aus uns heraustreten und ganz Gottes werden.4 Denn besser ist es, Gottes und nicht unser zu sein. Nur auf diesem Wege nämlich wird das Göttliche denen gegeben sein, die mit Gott vereinigt sind. Laßt uns also diese unverständige, unvernünftige und törichte Weisheit überschwenglich feiern und erklären, daß sie jeglichen Verstandes und jeder Vernunft und aller Weisheit und Einsicht Ursache ist. Ihr eigen ist aller Rat, und von ihr stammt alle Erkenntnis und Einsicht, und in ihr sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. Denn entsprechend dem früher Gesagten ist es die überweise und allweise Ursache, welche auch der Weisheit-an-sich und der ge- S. 116 samten und der individuellen Weisheit Subsistenz verleiht.5
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1 Kor. 1, 25. ↩
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Vgl. CH. II 3 und unten DN. VII 3. Weitläufiger noch MTh. IV und V. Siehe Koch 208 ff. über kataphatische und apophatische Theologie bei Proklus. ↩
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Vgl. DN. VII 3 ἡ ὑπὲρ νοῦν ἕνωσις. ↩
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wieder spricht Dionysius von dem mystischen ἐξίστασθαι (vgl. oben III 2), der Entrückung des Geistes in Gott, und bezeichnet es hier noch ausdrucksvoller: ὅλους ἑαυτοὺς ὅλων ἑαυτῶν ἐξισταμένους καὶ ὅλους θεοῦ γιγνομένους· κρεῖττον γὰρ εἶναι θεοῦ καὶ μὴ ἑαυτῶν. ↩
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Das alte Schema: σοφία θεοῦ (= θεός) — αὐτοσοφία —ἡ πᾶσα σοφία — ἡ καθ’ἕκαστον σοφία. ↩
