3.
S. 160 Dichterische Einbildung nämlich malte den Mythus aus, wonach Mädchen an klippenreichem Meeresgestade gehaust haben sollen: verführten sie mit süßer Stimme Seefahrer um des lieblichen Ohrenschmauses wegen zur Abänderung des Kurses, gaben sie die in die verborgenen Untiefen1 geratenen, durch die falsche Landungsstelle2 getäuschten Opfer dem Schicksal unseligen Schiffbruches preis. Das ist Dichtung, auf Schein beruhend, eitle Ausschmückung, mit künstlichen Farben aufgetragen: Meer, Frauenstimme, Untiefen daher eine Fiktion. Welches Meer aber öffnet abgrundtiefer seinen Schlund als die Welt: so tückisch, so unbeständig, so tief, so stürmisch ob des Dräuens der unreinen Geister? Was sinnbilden die Mädchen anders als den Reiz weichlicher Lust, welche die Kraft des betörten Geistes entnervt? Was aber bedeuten jene Untiefen als die Klippen unseres Heiles? Denn nichts dräut so sehr im Verborgenen als die Gefahr weltlicher Lust, die, während sie dem Sinn schmeichelt, über das Lebensschifflein hereinschlägt und des Geistes Kraft gleichsam an den Klippen des Fleisches zerschellt.