22.
Zu Antiochien lebte unlängst eine Jungfrau, die geflissentlich den Blicken der Öffentlichkeit sich entzog. Doch je mehr sie den Augen der Männerwelt aus dem Weg ging, um so mehr entfachte sie deren Lüsternheit. Doppelt heftig entbrennt ja das Verlangen nach einer Schönheit, von der man nur zu hören, nichts zu sehen bekommt, weil von einem zweifachen Stachel der Leidenschaften geschürt, dem der Liebe und dem der Neugier. Was weniger gefällt, springt nicht ins Auge, was gefällt, wird in der Einbildung übertrieben, weil nicht das Auge als Richter nach Befund, sondern das verliebte Herz nach Wunsch darüber urteilt. Damit nun nicht länger lüsterne Gier sich mit der Hoffnung auf ihren Besitz nährte, entschloß sich die heilige Jungfrau für den Stand unversehrter Jungfräulichkeit. Doch S. 354 damit dämpfte sie das Feuer (der Leidenschaft) in den Verruchten nur soweit, daß sie fürder nicht mehr geliebt, wohl aber preisgegeben wurde.
