3.
Heiligkeit und Güte seien also die Eigenschaften des Volkes Gottes! Heilig sei es, indem es Verbotenes meidet, und gütig, indem es Gebotenes tut! Wenngleich es etwas Großes ist, den rechten Glauben und die unverfälschte Lehre zu haben, wenngleich die Zurückdrängung der Gelüste des Gaumens, die Milde des Sanftmütigen und die Reinheit des Keuschen alles Lob verdienen, so sind doch alle diese Tugenden nackt ohne die Liebe. Und mag auch unser Charakter noch so vortrefflich sein, so kann man doch das nicht als verdienstlich bezeichnen, was nicht in der Liebe seinen Ursprung hat. Darum sagt auch der Herr im Johannesevangelium: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt zueinander“1 . Und in einem der Briefe desselben Apostels lesen wir: „Geliebteste, lasset uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott! Und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe“2 . Deshalb sollen nun die Gläubigen ihre Seele durchforschen und in wahrer Selbstprüfung über die geheimsten Neigungen ihres Herzens zu Gericht sitzen! Und finden sie in ihrem Innern so manche Früchte der Nächstenliebe, dann mögen sie nicht mehr daran zweifeln, daß Gott in ihnen wohnt! Und damit sie von Tag zu Tag würdiger werden, einen solchen Gast in sich aufzunehmen, sollen sie beständig und immer reichlicher S. 245die Werke der Barmherzigkeit üben! Wenn nämlich „Gott“ die Liebe ist, so darf unsere Liebe zum Nächsten kein Ende nehmen, weil die Gottheit in keine Grenzen eingeengt werden kann.