2.
So wollen wir uns denn, Geliebteste, die schwache menschliche Natur des Herrn auf seinem ganzen Leidesnwege nicht etwa so vorstellen, daß wir glauben1 , es habe ihr göttliche Macht gefehlt! Andererseits aber wollen wir uns die Natur2 des eingeborenen Sohnes Gottes, der ebenso ewig wie der Vater ist und S. 269die gleiche Wesenheit wie dieser selbst besitzt, auch nicht so denken, daß wir für Schein halten, was uns der Gottheit unwürdig dünkt!3 . Um es kurz zu sagen: Beide Naturen gehören zu dem einen Christus. In ihm ist weder das „Wort“ vom Menschen geschieden, noch der Mensch vom „Worte“. Und da seine Hoheit unangestastet blieb, verschmähte er auch nicht unsere Niedrigkeit. Nicht den geringsten Schaden brachte es der „leidensunfähigen“ Natur, daß sie sich mit der „leidensfähigen“ vereinen mußte. Das ganze Erlösungsgeheimnis, an dessen Verwirklichung Gottheit und Menschheit zugleich Anteil haben, ward ersonnen von der Barmherzigkeit und vollendet von der Liebe. Denn solche Fesseln hielten uns gefangen, daß wir nur durch solche Hilfe befreit werden konnten. So ist also die Erniedrigung der Gottheit unsere Erhöhung. So groß mußte der Preis sein, damit wir erlöst würden, so groß das Opfer, damit wir gesundeten! Wie könnte denn die Sünde den Weg zur Gerechtigkeit und Erdennot den Pfad zum Glücke wiederfinden, wenn nich der Gerechte zu den Ungerechten und der Selige zu den Unseligen herniederstiege?