7.
Hierauf bezieht sich ein Ausspruch unseres Hauptes Jesus Christus, der alle Glieder seines Leibes in sich verkörpert. Als er nämlich am Kreuze hing, rief er, indem er in der Sprache derer, die von ihm erlöst S. 358wurden, redete, was er dereinst in einem Psalme gesagt hatte: „Gott, mein Gott, schau auf mich! Warum hast du mich verlassen?“1 . In diesem Ausrufe liegt, Geliebteste, keine Klage, sondern eine Lehre. Da nämlich Gott und Mensch in Christus eine Person bilden und dieser nicht von dem verlassen werden konnte, von dem er unzertrennlich war, so stellt er für uns zaghafte und schwache Menschen die Frage, warum das vor dem Leiden zurückbebende Fleisch nicht erhört worden sei. Um uns hinfällige Geschöpfe von Furcht zu befreien und unsere Angst zu mildern, rief der Herr, als sein Leiden nahte: „Vater, wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch an mir vorübergehen, jedoch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“2 . Um unseretwillen wiederholte er die Bitte: „Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“3 . Christus hatte doch die Furcht des Fleisches besiegt und den Willen des Vaters zu seinem eigenen gemacht. Er hatte alle Schrecken des Todes überwunden und war daran, sein von ihm selbst gewolltes Werk zu vollenden. Weshalb fragt er nun4 aufgerichtet inmitten seines gewaltigen Siegestriumphes nach Grund und Ursache, wareum er verlassen, d.h. unerhört geblieben sei? Doch nur deshalb, um zu zeigen, daß sich das Gefühl, welches er zur Entschuldigung unserer Furcht in sich aufkommen ließ, von jenem unterscheide, zu dem er sich in Übereinstsimmung mit dem ewigen Ratschluß des Vaters von Anfang an für die Erlösung der Welt bekannte. So offenbaren uns also gerade die WDorte des unerhört Gebliebenen das große Geheimnis, daß die Macht des Erlösers dem Menschengeschlechte keinen Nutzen gebracht hätte, wenn an unserer schwachen menschlichen Natur seine Bitte in Erfüllung gegangen wäre.
Mit diesen Ausführungen möge es, Geliebteste für heute genug sein, um euch nicht durch eine allzu lange S. 359Predigt zu ermüden! Was wir noch zu sagen haben, wollen wir auf Mittwoch verschieben! Und Gott wird uns auf euer Gebet hin seinen Beistand leihen, so daß wir unser Versprechen mit Hilfe desjenigen erfüllen können, der lebt und waltet in Ewigkeit. Amen.