1.
Geliebteste! Die Größe des Erlösungsgeheimnisses, das sich nicht in Worte kleiden läßt, übersteigt so sehr das Vermögen des menschlichen Verstandes und die Kraft jeglicher Beredsamkeit, daß selbst die schäfsten Denker und die gewandtesten Zungen gar weit hinter der Erhabenheit des siegreichen Leidens Christi zurückbleiben. Aber trotzdem sollten wir uns eher freuen als schämen, wenn für die Hoheit dieses Gegenstandes unser Können nicht ausreicht! Niemand denkt von unserer Erlösung geringer, als wer glaubt, er habe bereits genug davon gesprochen. Darum ist es auch nicht überflüssig, wenn wir jetzt aufs neue predigen, wovon wir schon sooft gepredigt haben. Wer von göttlichen Dingen redet, darf nicht fürchten, bei „fleischlich gesinnten“ Zuhörern Überdruß zu erregen, gleich als ob er durch öftere Wiederholung diese Geheimnisse der Geringschätzung preisgäbe. Ist es doch ein vorzügliches Mittel zur Stärkung des christlichen Glaubens, wenn wir nach der Lehre des Apostels „alle ein und dieselbe Rede führen und alle in demselben Sinne und in derselben Erkenntnis vollkommen sind“1 . Der Unglaube, der der Vater aller Irrlehren ist, spaltet sich in viele Meinungen, die zu ihrer Beschönigung dringend der Kunst der Reden bedürfen. Die Verkündigung der Wahrheit aber wandelt stets auf lichtvollen Pfaden, und wenn auch ihr Glanz den einen mehr und den anderen S. 365weniger fühlbar wird, so beruht dies nicht auf einer Verschiedenheit des Lichtes, sondern auf geringere Sehkraft. Und in den Dienst dieser Wahrheit will sich mit Hilfe göttlicher Erleuchtung auch meine PÜredigt stellen. „Da ihr Gottes Feld und Gottes bau seid“2 , möge der den Geber und den Empfänger stärken, der von seinen Gaben gerechten Zins zu fordern weiß!