1.
Geliebteste! Die heilige Leidensgeschichte des Herrn, die ihr dem Brauche gemäß aus der Erzählung des S. 371Evangeliums kennengelernt habt, ist euch, wie ich glaube, so in Fleisch und Blut übergegangen, daß auf jeden der Zuhörer die verlesenen Worte wie ein selbst erlebtes Ereignis wirken. Besitzt doch der wahrhaft Gläubige die Kraft, sich in seinem Geiste zu vergegenwärtigen, woran er nicht mit seinem Leibe teilnehmen konnte1 . Mag er sich in die Vergangenheit oder in die Zukunft versetzen, seine Erkenntnis der Wahrheit ist unabhängig von den Schranken der Zeit. So treten also die Begebenheiten unserer Erlösung lebendig vor unsere Sinne. Alles, was damals die Herzen der Jünger erregte, das läßt auch unser Gemüt nicht unberührt. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß wir traurig und niedergeschlagen sind oder daß wir uns durch die wilde Grausamkeit der Juden schrecken lassen; denn die Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn verlieh selbst jenen unüberwindliche Standhaftigkeit, die jener gewaltige Sturm erschüttert hatte2 . Dagegen erfüllt uns die unerhörte Freveltat der Gottlosen mit furchtbarer Angst, wenn wir daran denken, wie sich damals Jerusalems Volk und Priesterschaft verhielt. Wenn nämlich auch das Leiden des Heilands die Erlösung des Menschengeschlechts zum Zwecke hatte und die Bande des ewigen Todes durch den zeitlichen Tod des Herrn zerrissen wurden, so hatte doch die Tat des gekreuzigten Dulders nichts mit der Tat derer zu tun, die ihn in ihrer Wut ans Kreuz schlugen. Barmherzigkeit und Haß verfolgten nicht die gleichen Ziele: Christus wollte durch sein Blut die Welt aus der Gefangenschaft befreien, während die Juden dadurch den Retter aller zu töten gedachten.