VI. Kapitel: Wie das Leben der Seele, solange sie im Körper weilt, aus der Bewegung der Glieder zu erkennen ist, so kann das Leben der Seele nach ihrem Abscheiden aus dem Leibe in der Gemeinschaft der Heiligen auf Grund der Wunder erschlossen werden
Petrus. Gut; ich kann auf das Leben der Seele, solange sie im Körper weilt, aus den Bewegungen des Körpers schließen; denn wenn die Seele im Leibe nicht anwesend wäre, könnten sich die Glieder des Leibes nicht bewegen. Aus welchen Bewegungen aber oder aus welchen Werken ersehe ich das Leben der Seele nach dem Leibesleben, um das Dasein eines Dinges erschließen zu können, das ich nicht zu sehen vermag?
Gregorius. Nicht in ähnlicher, sondern in verschiedener Weise, behaupte ich; wie nämlich die Kraft der Seele den Körper belebt und bewegt, so erfüllt die göttliche Kraft alle Wesen, die sie erschaffen hat; einige belebt sie, indem sie ihnen ihren Odem einhaucht, andern teilt sie einfach das Leben mit, wieder andern verleiht sie nur das Sein. Da du aber nicht zweifelst, daß es einen Gott gibt, der erschafft und regiert, erfüllt und umfaßt, der alles übersteigt und erhält, der unbegrenzt ist und unsichtbar, so darfst du auch nicht daran zweifeln, daß er unsichtbare Wesen besitzt, die ihm Gefolgschaft leisten. Und was dient, muß nach Ähnlichkeit mit dem streben, dem es dient, so daß, was dem Unsichtbaren dient, ohne Zweifel unsichtbar ist. Wer kann aber dieses Gefolge denn wohl sein, wenn nicht die heiligen Engel und die Seelen der Gerechten? Wie S. 194 du also, wenn du die Bewegung des Körpers betrachtest, vom Niedrigen ausgehend auf das Leben der im Körper weilenden Seele schließest, so mußt du vom Höchsten ausgehend auf das Leben der vom Körper scheidenden Seele schließen, weil sie unsichtbar zu leben vermag, da sie im Dienstgefolge des unsichtbaren Schöpfers verweilen muß.
Petrus. Das ist alles richtig, aber der Geist weigert sich, das zu glauben, was er mit leiblichen Augen nicht sehen kann.
Gregorius. Da Paulus sagt: „Es ist aber der Glaube ein fester Grund für das, was man hofft, eine gewisse Überzeugung von dem, was man nicht sieht”,1 so wird damit in der Tat das als Gegenstand des Glaubens bezeichnet, was man nicht sehen kann. Denn das kann nicht mehr erst geglaubt werden, was man bereits sieht. Um dich aber auf kurze Weise wieder zu dir selbst zu bringen: Die sichtbaren Dinge werden allein nur durch Unsichtbares gesehen. Denn siehe, das Auge deines Leibes sieht alle körperlichen Gegenstände; es würde aber dieses körperliche Auge nichts Körperliches sehen können, wenn ihm nicht etwas Unkörperliches die Sehkraft verleihen würde. Denn nimm den unsichtbaren Geist hinweg, und das Auge, das vordem sah, starrt ins Leere. Entziehe die Seele dem Körper, und es verbleiben dem Körper ohne Zweifel die offenen Augen. Wenn sie also zuvor sahen, warum sehen sie nun beim Scheiden der Seele nichts mehr? Ziehe also daraus den Schluß, daß auch das Sichtbare nur durch Unsichtbares gesehen wird. Stellen wir uns ferner in unserm Geiste vor, wie ein Haus gebaut wird, schwere Lasten gehoben werden, große Säulen an Aufzügen hängen; wer, ich bitte dich, vollbringt dies Werk, der sichtbare Körper, der die Lasten mit den Händen emporzieht, oder die unsichtbare Seele, die den Körper belebt? Denn denke dir das hinweg, was am Körper nicht gesehen wird, und alsbald verharren S. 195 alle die Massen, die man in Bewegung sah, in unbeweglichem Zustand. Daraus kannst du abnehmen, daß auch in dieser sichtbaren Welt alles nur durch eine unsichtbare Kreatur gelenkt wird. Denn wie der allmächtige Gott die mit Vernunft begabten unsichtbaren Wesen durch seinen Odem oder durch seine Inwohnung belebt und bewegt, so bewegt und belebt auch das Unsichtbare selbst seinerseits durch Einwohnung die sichtbaren fleischlichen Körper.
Petrus. Durch diese Gründe bin ich, ich gestehe es, besiegt und sehe mich gezwungen, diese sichtbaren Dinge jetzt sozusagen für nichts zu halten, nachdem ich, die Rolle der Schwachen übernehmend, an den unsichtbaren zweifelte. Darum hat alles, was du sagst, meinen Beifall; ich erkenne nun das Leben der im Körper weilenden Seele aus der Bewegung des Körpers, möchte aber doch auch aus einigen offenkundigen Tatsachen erkennen können, daß die Seele nach ihrem Abscheiden aus dem Leibe fortlebt.
Gregorius. Wenn du, mein Lieber, das wünschest, so macht mir die Anführung solcher Tatsachen keine Schwierigkeit. Hätten wohl die heiligen Apostel und Märtyrer Christi das gegenwärtige Leben verschmäht und ihre Seele dem leiblichen Tod hingegeben, wenn sie nicht gewußt hätten, daß ein sichereres Leben für die Seele darauf folgt? Du selbst sagst, daß du das Leben der im Körper weilenden Seele aus den Bewegungen des Körpers erkennst; nun siehe, diejenigen, welche die Seelen in den Tod hingaben und glaubten, daß es ein Leben der Seele nach dem Tode gebe, glänzen durch tägliche Wunder! Denn zu ihren entseelten Leibern kommen Kranke und werden gesund, kommen Meineidige und werden vom bösen Feind gequält, da kommen Besessene und werden befreit, kommen Aussätzige und werden rein; dahin bringt man Tote, und sie werden erweckt! Nun also erwäge, ob ihre Seelen im Jenseits weiterleben, wenn die toten Leiber schon hier in so vielen S. 196 Wundern leben! Wenn du also das Leben der Seele, solange sie im Körper weilt, aus der Bewegung der Glieder erkennst, warum schließest du nicht auch aus den wunderkräftigen toten Gebeinen, daß die Seele lebt, auch nachdem sie den Körper verlassen?
Petrus. Kein Grund, glaube ich, steht dieser Anführung entgegen, die uns zwingt, wegen der sichtbaren Dinge das zu glauben, was wir nicht sehen.
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Hebr 11,1 ↩