II. Kapitel: Wie der Heilige eine fleischliche Versuchung überwand
Eines Tages aber, da er allein war, nahte sich ihm der Versucher. Ein kleiner, schwarzer Vogel, gemeinhin Amsel genannt, flog ihm immer um das Gesicht und belästigte ihn so, daß ihn der heilige Mann hätte mit der Hand fangen können, wenn er gewollt hätte; er aber machte das heilige Kreuzzeichen, und der Vogel flog davon. Als aber der Vogel fort war, folgte eine so heftige fleischliche Versuchung, wie sie der heilige Mann niemals empfunden hatte. Er hatte nämlich einmal eine Frauensperson gesehen; diese führte der böse Feind vor die Augen seiner Seele und entfachte in dem Herzen des Dieners Gottes durch ihre Schönheit ein solches Feuer, daß sich die Liebesflamme in seiner Brust kaum mehr verhalten ließ und er beinahe schon daran dachte, der Sinnlichkeit nachzugeben und die Einsamkeit zu verlassen. Da traf ihn plötzlich ein Blick der göttlichen Gnade, und er kam wieder zu sich; und als er in der Nähe ein dichtes Nessel- und Dornengestrüpp erblickte, zog er sein Gewand aus und warf sich nackt in die spitzigen Dornen und in die brennenden Nesseln. Lange wälzte er sich darin und war, als er herausging, am ganzen Körper verwundet. So entfernte er durch die Wunden der Haut die Wunden der Seele aus seinem Körper; denn er verwandelte die Lust in Schmerz, und während er nach außen wohl zur Strafe brannte, löschte er das Feuer, das unerlaubterweise in seinem Innern loderte. Er besiegte so die Sünde, indem er ein Feuer S. 55 in ein anderes verwandelte. Von dieser Zeit an nämlich war in ihm die Versuchung zur Sinnlichkeit erstickt, wie er selbst seinen Jüngern später erzählte, so daß er nie mehr etwas Solches in sich empfand. Später verließen viele die Welt und begaben sich unter seine Leitung. Befreit von dem Übel der Versuchung, wurde er mit Recht ein Lehrmeister der Tugend. Deshalb wird auch durch Moses1 befohlen, daß die Leviten von fünfundzwanzig Jahren und darüber dienen, vom fünfzigsten Jahre an aber Bewahrer der heiligen Gefäße sein sollen.
Petrus. Jetzt geht mir zwar einigermaßen ein Verständnis der angeführten Stelle auf, aber doch bitte ich, sie mir vollständig zu erklären.
Gregorius. Bekanntlich ist, Petrus, in der Jugend die fleischliche Versuchung sehr heftig; vom fünfzigsten Jahre an aber nimmt die Hitze des Körpers ab. Die heiligen Gefäße sind die Seelen der Gläubigen. Solange also die Auserwählten sich noch in der Zeit der Versuchung befinden, müssen sie Untertan sein und dienen, in Gehorsam und Arbeit sich abmühen; wenn aber dann in ruhigem Seelenalter die Heftigkeit der Versuchung nachgelassen hat, dann sind sie Bewahrer der heiligen Gefäße; denn sie werden Seelenlehrer.
Petrus. Ich gestehe, deine Auslegung befriedigt mich; aber da du nun den verborgenen Sinn der angeführten Stelle erschlossen hast, so bitte ich dich, die begonnene Lebensbeschreibung des Gerechten fortzusetzen.
Num 8,24ff ↩
