XXII. Kapitel: Von einem Priester in der Provinz Valeria, der bei seinem Grabe einen Dieb festhielt
In der Provinz Valeria nämlich hat sich das zugetragen, was ich jetzt erzählen will; mein Abt Valentio seligen Angedenkens hat es mir erzählt. Dort lebte ein ehrwürdiger Priester, der mit seinen Klerikern dem Lob Gottes und guten Werken oblag und ein heilig mäßiges Leben führte. Es kam aber der Tag, da er abberufen wurde; er starb und wurde vor der Kirche begraben. An die Kirche stieß ein Schafstall, und wer zu den Schafen kommen wollte, mußte über die Grabstätte hinweggehen. In einer Nacht nun kam, während die Kleriker in der Kirche psallierten, ein Dieb; er ging in den Stall, um zu stehlen, nahm einen Hammel und entfernte sich schleunigst. Als er aber an die Stelle kam, S. 151 wo der Mann Gottes begraben lag, mußte er plötzlich halten und konnte keinen Schritt mehr tun. Er nahm den Hammel von der Schulter und wollte ihn laufen lassen, aber er konnte die Hand nicht mehr rühren. So mußte der Elende also mit seiner Beute stehen bleiben, der Schuld überführt und auch schon gefangen. Er wollte den Hammel laufen lassen und konnte es nicht, er wollte mitsamt dem Hammel davoneilen und vermochte es nicht. Auf wunderbare Weise hielt der Tote also den Dieb fest, der sich vor den Lebenden nicht sehen lassen wollte. Da ihm so Hand und Fuß gefesselt waren, mußte er unbeweglich stehen bleiben. Als es Morgen geworden und das Lob Gottes zu Ende gesungen war, kamen die Kleriker aus der Kirche und fanden da einen unbekannten Menschen, der einen Hammel mit der Hand hielt. Es stand im Zweifel, ob er den Hammel fortnehmen oder bringen wollte, aber der Schuldige erzählte, wie er gestraft wurde. Alle staunten darüber, daß der Dieb durch das Verdienst des Mannes Gottes angefesselt bei seiner Beute stehen bleiben mußte. Sie beteten für ihn und konnten nur mit Mühe durch ihr Gebet erlangen, daß derjenige, der gekommen war, sie zu bestehlen, wenigstens mit leeren Händen wieder abziehen durfte. So konnte schließlich der Dieb, der lange als Gefangener bei seinem Raube hatte stehen bleiben müssen, leer und frei von dannen gehen.
Petrus. Man sieht, wie groß die Freundlichkeit des allmächtigen Gottes gegen uns ist, da er so ergötzliche Wunder für uns geschehen läßt.