Traktat V. Von dem Glauben oder von der ewigen Zeugung des Gottessohnes.
1. Der Anfang, Brüder, ist zweifellos Christus, unser Herr, Ihn umschloß vor aller Zeit der Vater, als Gott der seligen Ewigkeit noch beide1 (sich und den Sohn) gemeinsam mit der nicht geschiedenen Fülle des Heiligen Geistes irgendwie in seinem Bewußtsein verborgen haltend: er umschloß ihn, nicht ohne ihn als Sohn zu lieben, aber ohne ihn von sich zu scheiden. Aber um die Ordnung der Dinge, die ausgedacht waren, zur Ausfüh- S. 209 rung zu bringen, ließ die unaussprechliche Kraft und die unbegreifliche Weisheit aus ihrem Herzen das Wort ausgehen,2 pflanzte die Allmacht sich fort. Aus Gott wird Gott gezeugt, der alles vom Vater hat und doch ihm nichts nimmt. Der eine ist der Abglanz des andern; die Herrlichkeit, die jeder besitzt, ist gemeinsame Ehre: was der Sohn besitzt, besitzt auch der Vater, und was der Vater besitzt, ist Eigentum beider. Es freut sich der Vater des andern Ich, das er aus sich gezeugt. Wahnwitz aber ist es, Vermutungen darüber anzustellen, wie die Zeugung dessen sich vollzogen, der hervorgegangen. Denn der Sohn legt sich um der geschaffenen Dinge willen Selbstbeschränkung auf, weil die Armseligkeit dieser Welt seine Majestät nicht unverhüllt ertragen könnte. Wenn der Vater befiehlt, daß die Welt werden soll, so wird dieses Werk vom Sohn durch das Wort zur Ausführung gebracht. Wie das aber geschehen soll, wie groß, welcher Art es werden soll, darüber gibt niemand Vorschrift, darnach fragt niemand: es wäre eine Beleidigung des Vaters, wenn solches für den notwendig schiene, der im Schöße des Vaters weilte und so die Vollkommenheit von dessen Willen nicht kennenzulernen brauchte, sondern sie selbst besaß.
2. Und als die Welt vollendet war, wurde als letzter durch den Finger und die Hand Gottes der Mensch aus Lehm gebildet. Es wird ein Gebilde geschaffen, das der Bewegung fähig, aber in keiner Beziehung sich seiner selbst bewußt war. Damit es werde ein Ebenbild Gottes, wird ihm von Gott der Odem eingehaucht zu einer lebendigen Seele. So empfängt der Mensch einen Geist, den er ebenfalls nicht kennt; er sieht ihn nicht eintreten, er kann sein Scheiden nicht hindern. Und da glaubt jemand das Geheimnis Gottes zu kennen, er, der das Geheimnis seines eigenen Leibes nicht kennt? Laßt uns daher, meine Brüder, Gott, den wir gefunden haben, fürchten, lieben und ehren! Denn dazu sind wir geschaffen und S. 210 geboren. Und diejenigen, die ihn nicht besitzen, mögen ihn wenigstens suchen!
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Die Ballerini lasen: Christus, quem ante omnia saecula Pater adhuc utrinque in semetipso Deus ... amplectebatur. Giuliari: ...Pater adhuc uterque in semetipso Ueus. Die Mehrzahl der Handschriften und die älteren Ausgaben bieten aber wohl richtig: Pater adhuc utrumquein semetipso Deus ... amplectebatur. ↩
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Vgl. Ps. 44,2. ↩