2.
Nun wollen wir ein kurzes, offenes Wort über das wütende Treiben ihrer Gegnerin sprechen, die sich als solche schon aus der Vergleichung ihrer Bezeichnungen erkennen läßt, so daß man sehr leicht erkennen kann, was man erstreben und was man fliehen muß. Denn unter dem Deckmantel des Namens Christi, Brüder, sucht auch S. 94 der Antichrist sich als keusch darzustellen, um zu verführen; auch er führt das klingende Wort Keuschheit mit sich; aber der Urheber dieser Keuschheit läßt erkennen, welcher Art ihre Früchte sind. Wie toll rast die Un-keuschheit durch die Menschheit; mit den glühenden Stacheln ihrer Begierden verleitet sie das Herz der Menschen in seiner Sinnlichkeit zu unsinnigem Beginnen; sie schont kein Geschlecht, kein Alter, kein heiliges Pflichtgefühl, schont sich selbst nicht; denn ein Mensch, der das Schamgefühl des andern angreift, gibt vorher schon sein eigenes preis. Für sie geht keine Nacht und kein Tag vorüber, die sie in Reinheit verbrächte; immer sinkt sie im Brausen ihres schmutzigen Strudels unter; denn immer steigt mächtig die schmutzige Begierde auf und sucht in der Tat oder in der Phantasie Befriedigung. Sie zahlt dafür Lohn oder sie nimmt solchen in Empfang; sie verführt oder sie läßt sich verführen; sie weckt Liebe und wandelt dieselbe kurze Zeit darauf in Haß. Sie erzeugt unberechtigte Erben; und wenn sie zur Einsicht über das Vergehen kommt, entschuldigt sie es unter dem Vorwand der Liebe zu Kindern. Dagegen die eigenen Kinder verleugnet sie oder versagt ihnen die elterliche Liebe. Sie glaubt durchaus nicht, daß das, was sie mit sich tun läßt oder was sie tut, etwas Schändliches ist, wenn nur das Vorhaben gelingt. Und doch ist sie selbst bei dem Genuß an dem sie sich zu freuen pflegt, wenn es ihr gelang, die Keuschheit des Mitmenschen zu Fall zu bringen, immer unglücklich. Vollends nach vollbrachter Tat haßt sie sich selbst und denjenigen, den sie zu Fall gebracht. Sie hat schon oftmals friedliche Völker in Krieg gestürzt; sie hat schon zuweilen festgegründete Reiche zum Untergang gebracht. Sie hat die Gattinnen von andern durch schändliche und grausame Taten zu Fall gebracht und so Siege gefeiert. Sie hat in ihrer wahnsinnigen Gier gelehrt, Männer mit einem Dirnenlohn, wie er in dieser Form selbst Frauen unbekannt ist, abzulohnen — man sollte es nicht für möglich halten — und so ihre eigene S. 95 Natur zu Fall zu bringen. Sie hat den Lohn ihrer Lust sogar mit dem Tod von Eltern, Kindern, Gatten und Gattinnen bezahlt. Sie hat zuweilen die Begriffe von Kindesliebe durch widernatürliches Beilager zerstört und dabei die Züchtigen zwar verfolgt, die Unzüchtigen aber ganz verdientermaßen getötet. Ja sie gebiert zeitweilig alles Böse und sie hat auch all das geboren, was noch schlimmer ist: sie ist unter den Götterbildern eine Göttin, aber für ihre Verehrer eine Dienerin. In den Tempeln gibt sie sich als Gegenstand der Verehrung, aber in den Theatern als Trägerin der Heiterkeit, auf den Straßen erscheint sie anstößig, in jedem stillen Schlupfwinkel zur Hingabe bereit. In ihrem Drang, zu reizen, läßt sie nicht Zunge, nicht Auge, nicht Ohr ruhen, scherzt, hofft, wirbt, erhört, eifert, rast, verlegt sich aufs Bitten, verlegt sich auf Zorn und weiß zuweilen mit Gewalt zu erreichen, was sie mit Schmeichelei nicht durchzusetzen vermochte. Sie liebt allezeit mannigfache Abwechslung in ihren sinnlichen Freuden und ist unbefriedigt, weil sie in der Auskostung des Genusses doch nie zur vollen Sättigung kommt. Sie verlangt Dinge zu tun, von denen sie fürchten muß, daß sie in der Öffentlichkeit bekannt werden. Sie wagt schlechthin alles, um alles sich dienstbar zu machen. Sie ist eine neue Art von Ungeheuer: sie haßt die Keuschheit und verlangt gleichzeitig als das zu gelten, was diese gilt.