5. Die Begierlichkeit hält Augustinus von der Bekehrung ab.
Als mir dein Diener Simplicianus dieses von Victorinus erzählt hatte, entbrannte ich vor Begier, ihm nachzuahmen; zu diesem Zwecke hatte es auch jener erzählt. Als er aber noch das hinzufügte, daß er, als zur Zeit des Kaisers Julianus1 ein Gesetz den Christen verbot, Literatur und Rhetorik zu lesen, diesem Gesetze gehorsam lieber auf die geschwätzige Schule verzichtet hatte als auf dein Wort, durch das du „den Mund der Kinder beredt machst“2, da erblickte ich darin noch mehr Glück als Mut, da er so Gelegenheit gefunden, sich ganz dir hinzugeben. Und danach seufzte auch ich; aber ich war geschlagen, nicht in fremde Eisenbande, sondern in die Bande meines eisernen Herzens. Mein Wollen hielt der Feind in seinen Händen, daraus hatte er eine Kette geschmiedet, durch die er mich gebunden hatte. Denn aus dem verkehrten Willen entsteht die Begierlichkeit, und wenn man der Begierlichkeit dient, so wird sie zur Gewohnheit, und wenn man der Gewohnheit keinen Widerstand leistet, so wird sie zur Notwendigkeit. So hielt mich wie mit ineinander verschlungenen Ringen - daher nannte ich es Kette - harte Sklaverei in ihren Banden. Der neue Wille aber, der in mir aufkeimte, dir um deinetwillen zu dienen und deiner zu genießen, Gott, du einzig sichere Wonne, war noch nicht imstande, den älteren, durch lange Gewohnheit stark gewordenen zu überwinden. So stritten zwei Willen, ein alter und ein neuer, ein fleischlicher und ein geistiger, miteinander, und ihr Zwiespalt zerriß meine Seele.
So verstand ich nun aus eigener Erfahrung, was ich gelesen hatte, wie „das Fleisch gelüstet wider den Geist und der Geist wider das Fleisch“3. Ich selbst war freilich in beidem; aber mehr war doch mein Ich in dem, was ich mißbilligte. Denn in diesem war ich eigentlich schon nicht mehr, da ich es vielfach mehr gegen meinen Willen litt als es freiwillig tat. Allein die Gewohnheit S. 169 war durch mich selbst zu stark gegen mich geworden, denn durch meinen eigenen Willen war ich dorthin gekommen, wohin ich lieber nicht gekommen wäre. Und wer könnte mit Recht Einsprache erheben, wenn den Sünder die gerechte Strafe trifft? Auch diese Entschuldigung konnte ich nicht mehr vorbringen wie sonst, daß ich nur deshalb noch nicht die Welt verachtete und dir diente, weil die Erkenntnis der Wahrheit mir ungewiß sei; denn sie war mir inzwischen sicher geworden. Aber ich war noch an die Erde gebunden und weigerte mich, für dich zu kämpfen; ich fürchtete so, von allen Lasten entlastet zu werden, wie man sich fürchten muß, belastet zu werden.
So lag süß wie im Schlafe die Last der Welt auf mir, und die Gedanken, die mein Sinnen auf dich richtete, glichen dem Bemühen derer, die da aufwachen wollen, aber, von der Tiefe des Schlummers überwältigt, immer wieder zurücksinken. Und wie niemand immer schlafen möchte und nach dem Urteile aller Vernünftigen das Wachen besser ist, trotzdem aber der Mensch die Stunde des Aufstehens gar häufig hinausschiebt, wenn er in den Gliedern eine große Schwere empfindet, und den Schlaf, trotzdem er ihn mißbilligt, noch gar zu gern genießt, auch wenn die Stunde des Aufstehens schon da ist, so war auch ich darüber gewiß, daß es besser ist, mich deiner Liebe hinzugeben als meiner Begierlichkeit nachzugeben. Aber jenes gefiel und überwand, dieses dagegen beliebte und band. Denn ich wußte nichts, was ich dir hätte antworten sollen, wenn du mir sagtest: „Stehe auf, der du schläfst, und erhebe dich von den Toten, und Christus wird dein Licht sein“4. Überall zeigtest du mir die Wahrheit deiner Worte, und von der Wahrheit überzeugt, wußte ich doch dir durchaus keine andere Antwort zu geben als träge, schlaftrunkene Worte: "Gleich, ach gleich! Laß mich noch ein Weilchen". Aber dieses "Gleich, gleich" hatte kein Ende, und dieses "Laß mich noch ein Weilchen" zog sich gar sehr in die Länge. Vergebens hatte ich "dem inneren Menschen nach an deinem Gesetze meine S. 170 Freude", da ein anderes Gesetz „in meinen Gliedern dem Gesetze meines Geistes widerstritt und mich gefangen führte unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern war“5. Denn das Gesetz der Sünde ist die Macht der Gewohnheit, welche den Geist auch wider seinen Willen fortreißt und festhält und zwar verdientermaßen, da er sich willig ihr hingegeben hat. Ich elender Mensch, „wer wird mich befreien vom Leibe dieses Todes, wenn nicht deine Gnade durch Jesum Christum, unsern Herrn?“6
