10. Exkurs gegen die Manichäer, die aus diesen zwei sich einander entgegenstehenden Willensrichtungen auf zwei entgegengesetzte Naturen schließen.
„Verderben sollen vor deinem Antlitz“1, o Gott, wie zu Grunde gehen „die Schwätzer und Verführer“2 der Seelen, diejenigen, die bei ihren Überlegungen zwei Willen gewahren und nun auch behaupten, es gebe zwei geistige Naturen, eine gute und eine böse. Sie selbst fürwahr sind böse, die solch böse Gedanken hegen; sie werden aber gut sein, wenn sie die Wahrheit erkennen und die Wahrheit anerkennen, auf daß der Apostel ihnen sage: „Einst waret ihr Finsternis; jetzt aber seid ihr Licht im Herrn“3. Denn indem jene Licht sein wollen, aber nicht im Herrn, sondern in sich selbst, von der Annahme ausgehend, das Wesen der Seele sei, was Gott ist, sind sie umso dichtere Finsternis geworden, weil sie in schrecklicher Anmaßung sich zu weit von dir entfernt haben, von dir, dem wahren Lichte, das da erleuchtet „jeden Menschen, der in diese Welt kommt“4. Merket auf, was ihr saget, und errötet; und „tretet hin zu ihm, und ihr werdet erleuchtet werden, und euer Antlitz wird nicht mehr erröten“5. Als ich erwog, daß ich dem Herrn, meinem Gott, nun dienen wollte, wie ich es mir schon lange vorgenommen hatte, so war ich es, der wollte, ich, der nicht wollte; ich war es. Denn weder mein Wollen noch mein Nichtwollen war ganz und ungeteilt. Daher lag ich mit mir im Streite und war uneins mit mir; zwar kam diese Entzweiung gegen meinen Willen, aber bekundete doch nicht das Vorhandensein eines fremden Geistes in mir, sondern nur die Strafe meines eigenen. Deshalb war sie auch weniger mein Werk als das der „Sünde, die in mir wohnt“6 als die Folge der Strafe einer viel freieren Sünde; ich war ja ein Adamskind. S. 179
Denn wenn es so viele entgegengesetzte Naturen wie widerstrebende Willen gibt, so wird es deren nicht zwei, sondern mehr geben. Wenn jemand überlegt, ob er in eine Versammlung der Manichäer oder ins Theater gehen soll, so schreien sie: "Siehe da den Beweis, daß es zwei Naturen gibt, eine gute führt ihn zu uns, eine böse zieht ihn dorthin. Woher denn sonst die Unentschlossenheit zweier widerstrebender Willen ?" Ich aber nenne beide böse, den, der ihn zu jenen führt, und den, der ihn ins Theater zieht. Aber sie glauben nicht anders, als daß der Wille, der jenen zu ihnen führe, gut sei. Wie nun, wenn also jemand von uns überlegte und im Widerstreite zweier Willen schwankte, ob er ins Theater oder in unsere Kirche gehe, werden dann nicht auch jene schwanken, was sie antworten sollen? Denn entweder müssen sie gestehen, was sie nicht wollen, daß ein guter Wille sie in unsere Kirche führe, wie ein solcher auch diejenigen in ihre Kirchen führt, die in ihre Geheimnisse eingeweiht sind und an ihnen festhalten, oder sie müssen annehmen, daß zwei böse Naturen und zwei böse Seelen in einem Menschen miteinander kämpfen; dann ist aber ihre gewöhnliche Behauptung, von den beiden Naturen sei die eine gut, die andere böse, nicht wahr. Oder aber sie müssen der Wahrheit die Ehre geben und nicht länger leugnen, daß, wenn jemand vor einer Entscheidung steht, ein und dieselbe Seele zwischen verschiedenen Willen hin-, und herschwankt.
Wenn sie also wahrnehmen, wie zwei Willen in einem und demselben Menschen miteinander im Widerstreit liegen, so können sie nicht mehr behaupten, es sei dies der Kampf zweier entgegengesetzter geistiger Substanzen und Prinzipien, von denen das eine gut, das andere böse sei. Denn du, wahrhafter Gott, zeihest sie der Lüge, widerlegst und überführst sie. So muß man von zwei bösen Willen sprechen, wenn einer überlegt, ob er einen Menschen durch Gift oder Dolch töten, ob er dieses oder jenes fremde Grundstück an sich reißen soll, wenn er beide nicht zugleich an sich reißen kann; ob er sich Vergnügen durch Wollust erkaufen oder sein Geld geizig aufbewahren, ob er in den Zirkus oder ins Theater S. 180 gehen soll, wenn an einem Tage sowohl hier wie dort Vorstellungen stattfinden; ich füge ein Drittes hinzu, ob er, wenn sich Gelegenheit bietet, in einem fremden Hause stehlen, ein Viertes, ob er, wenn ebenfalls die Gelegenheit günstig ist, einen Ehebruch begehen soll - wenn das alles auf einen und denselben Zeitpunkt fällt und das Verlangen sich gleich heftig auf die einzelnen Objekte richtet, die doch zusammen unmöglich ausgeführt werden können. Denn sie zerreißen den Geist durch vier einander widerstrebende Willen oder gar noch mehr, da es so viele Dinge gibt, nach denen man verlangt; aber von einer entsprechend großen Anzahl von Substanzen pflegen sie nicht zu sprechen. Genau so verhält es sich mit den guten Willensregungen. Denn wenn ich sie frage, ob es gut ist, sich an der Lesung des Apostels zu erfreuen oder an einem ernsten Psalm sich zu erquicken, oder ob es gut ist, das Evangelium zu erläutern, so werden sie auf die einzelnen Fragen mit "Ja" antworten, Wie also, wenn das alles in gleichem Maße und zu gleicher Zeit uns erfreute, würden da nicht einander widerstrebende Willen das Herz des Menschen zerteilen bei der Überlegung, was man am ersten ergreifen soll? Und alle diese Willen sind gut, aber sie streiten miteinander, bis das eine erwählt wird, dem sich nunmehr der ganze Wille, der bis dahin in verschiedene Richtungen gespalten war, ungeteilt zuwendet. Ebenso ist es auch, wenn die Sehnsucht nach dem Ewigen uns nach oben hebt und die Freude am Zeitlichen uns unten zurückhält - es ist dieselbe Seele, die dieses oder jenes nicht mit dem ganzen Willen will und deshalb von schwerer Unruhe zerrissen wird, weil sie jenem der Wahrheit gemäß den Vorzug gibt, von diesem aber aus langer Gewohnheit nicht lassen mag.
