30. Sein Verhalten gegenüber den Versuchungen der Fleischeslust.
Sicherlich befiehlst du, daß ich mich enthalte „von der Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens“1. Du hast Enthaltung von außerehelicher Verbindung befohlen, und was die Ehe anbetrifft, hast du auf etwas hingewiesen, was noch besser ist als das, was du zugestanden hast. Und da du es verliehen, so geschah es, noch bevor ich Verwalter deines Sakramentes wurde. Allein noch leben in meinem Gedächtnisse, von dem ich soviel gesprochen habe, die Bilder von derlei Dingen, welche die Gewohnheit darin befestigt hat; wenn ich wach bin, dann wagen sie sich zwar auch an mich heran, sind aber kraftlos, im Schlafe jedoch verleiten sie mich nicht nur zur Wollust, sondern sogar bis zur Einwilligung und fast zur Sünde selbst. Und so gewaltig ist das Trugbild in meiner Seele und in meinem Fleische, daß mich im Schlafe trügerische Bilder zu etwas verführen können, wozu mich in wachem Zustande wahre nicht verführen können. Bin ich dann nicht mehr ich selbst, mein Herr und Gott? Allerdings besteht S. 247 zwischen mir und mir in dem Augenblicke, wo ich aus dem Zustande des Wachens in den des Schlafes übergehe oder aus diesem wieder zurückkehre, die größte Verschiedenheit. Wo ist da die Vernunft, die wachend solchen Einflüsterungen widersteht und auch unerschüttert bleibt, wenn die Dinge selbst sich mir aufdrängen? Schließt sie sich mit den Augen? Schläft sie ein mit den Sinnen des Körpers? Wie kommt es denn, daß wir oft auch im Schlafe Widerstand leisten und unseres Vorsatzes eingedenk mit aller Keuschheit auf ihm beharren und auf keine Weise in solche Lockungen einwilligen? Und doch ist der Unterschied so groß, daß, auch wenn es anders kommt, wir beim Erwachen die Ruhe des guten Gewissens wiederfinden und gerade durch diesen Abstand zwischen Traum und Wachen erkennen, daß wir nicht freiwillig getan haben, was zu unserm großen Bedauern doch irgendwie in uns geschehen ist.
Ist etwa, allmächtiger Gott, deine Hand nicht mächtig genug, alle Schwächen meiner Seele zu heilen und durch das Übermaß deiner Gnade auch die lüsternen Regungen meines Schlafes zu ersticken? Reicher und reicher wirst du, o Herr, mir deine Gaben verleihen, auf daß meine Seele, frei von allen Lockungen der Begierlichkeit, mir zu dir folge, so daß sie, nicht rebellisch gegen sich selbst, weder im Schlafe jene erniedrigenden Schändlichkeiten, welche die sinnlichen Bilder bis zur Wollust hervorrufen, begehe noch irgendwie in Gedanken darein einwillige. Denn für dich, den Allmächtigen, „der du mehr verleihen kannst als wir erflehen und begreifen“2, ist es eine Kleinigkeit zu verhindern, daß irgendein unlauterer Gedanke in mir Wohlgefallen erwecke, auch nicht einer, der durch einen bloßen Wink im keuschen Herzen eines Schlafenden unterdrückt werden könnte, und zwar nicht nur in meinem jetzigen Alter, sondern auch im späteren Leben. Nun aber habe ich meinem gütigen Herrn bekannt, wie es noch gegenwärtig in mir mit diesem Übel steht, „frohlockend mit Zittern“3 S. 248 über das, was du mir gegeben, und trauernd über das, was noch unvollkommen ist in mir; aber ich hoffe, daß du deine Barmherzigkeit an mir noch vollziehen wirst bis zu jenem vollkommenen Frieden, den mein innerer und äußerer Mensch bei dir finden werden, wenn einst „der Tod in den Sieg verschlungen sein wird“4.