14.
Aus allen Kräften wollen wir uns also bemühen, daß auch diejenigen zu ihm gelangen, die wir lieben wie uns selbst, vorausgesetzt, daß wir durch die Liebe zu ihm bereits gelernt haben, uns selbst zu lieben. Denn Christus, der die Wahrheit selbst ist, sagt, daß das ganze Gesetz samt den Propheten enthalten ist in den beiden Geboten: Gott zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte und den Nächsten wie uns selbst1. Wer aber an dieser Stelle unter dem Nächsten verstanden wird, das ist nicht nach der Blutsverwandtschaft zu bemessen, sondern mit Rücksicht auf die Verbrüderung, in der alle Menschen zueinander stehen. Denn wenn schon die Rücksicht auf das Geld verbrüdert, um wieviel mehr erst die Rücksicht auf die Natur, die uns nicht nach der Ordnung des Handels, sondern nach dem Gesetze der Geburt gemeinsam ist! Wenn darum jener Lustspieldichter — denn klare Geister erhellt zuweilen S. 600 ein Widerstrahl der Wahrheit — einen Greis zu dem anderen sagen läßt:
„Gönnt dein Geschäft dir denn so viele Zeit,
Daß Fremdes dich bekümmert, was dich nicht berührt?“,
so legt er dem anderen die Antwort in den Mund:
„Mensch bin ich; nichts, was menschlich, acht' ich mir als fremd“2.
Diesem Satz sollen ganze Theater, von törichten und ungelehrten Leuten angefüllt, ihren Beifall gespendet haben. So tief ist also von Natur aus die Verwandtschaft der menschlichen Seelen in aller Herz geschrieben, daß selbst an diesem Orte niemand unter seinem Nächsten etwas anderes verstand als jeden beliebigen Menschen.