12.
Indessen möge die Frage, welche Geistlichen bleiben sollen, damit die Kirche nicht durch die Flucht aller verwaist werde, und welche fliehen sollen, damit sie nicht durch den Tod aller verwaist werde, unter den
Dienern Gottes selbst ausgemacht werden. Ein solcher Streit wird nämlich unter ihnen entstehen, wenn auf beiden Seiten die Liebe glüht und beide Teile der Liebe1 Wohlgefallen. Wenn dieser Streit nicht anders zu schlichten ist, so soll man nach meiner Ansicht durch das Los entscheiden lassen, welche bleiben und welche fliehen sollen. Denn jene, die selbst erklären, daß sie eher fliehen müßten, werden entweder als feige erscheinen, weil sie die bevorstehende Drangsal nicht erdulden wollen, oder als hochmütig, weil sie sich selbst für diejenigen halten, die der Kirche notwendig sind und erhalten werden müssen. Ferner werden vielleicht gerade die Besseren es sich auswählen, für ihre Brüder das Leben hinzugeben, und gerade jene durch die Flucht aufbewahrt werden, deren Leben weniger nützlich ist, weil sie geringere Erfahrung im Erteilen von Ratschlägen und in der Seelenleitung besitzen. Die Frommgesinnten aber werden jenen widersprechen, die sie gern am Leben erhalten wissen möchten, die aber lieber sterben als fliehen wollen. Deshalb steht geschrieben: „Das Los bringt den Widerspruch zum Schweigen und entscheidet unter den Mächtigen“2. Denn Gott urteilt besser als die Menschen in solchen zweifelhaften Fällen, mag er nun die Besseren zur Krone des Martyriums berufen und der Schwachen schonen, oder mag er diese zur Ertragung der Leiden stärken und diesem Leben entnehmen wollen, da ihr Leben der Kirche Gottes nicht so sehr nützen kann als das der ersteren. Es geschieht zwar etwas Ungewöhnliches, wenn das Los geworfen wird; wenn es aber geschehen ist, wer wird es zu tadeln wagen? Wer wird so unverständig oder mißgünstig sein, eine solche Handlung nicht mit gebührender Lobeserhebung zu preisen? Will man dies nicht tun, wovon kein Beispiel vorliegt, so fliehe keiner, damit am kirchlichen Dienste, der in solchen Gefahren eine besonders notwendige und dringende Pflicht ist, nichts fehle. Niemand nehme seine Person aus und behaupte, wenn er eine Gnade in hervorragender Weise besitzt, er sei S. 813 deshalb des Lebens und folglich auch der Flucht mehr würdig. Denn wer immer' dies meint, hat an sich ein zu großes Wohlgefallen; wer immer aber auch so sagt, der mißfällt allen.